Europa

Nahm die Ukraine einen "großen Krieg" mit Russland als Preis für den NATO-Beitritt in Kauf?

Kam der ukrainischen Führung die militärische Auseinandersetzung mit Russland gelegen? Ein Militärberater von Präsident Selenskij prophezeite schon vor drei Jahren einen "großen Krieg" mit dem Nachbarn – sogar bis ins Detail. Aus seiner Sicht war dieser unvermeidlich und für eine NATO-Perspektive keineswegs unerwünscht.
Nahm die Ukraine einen "großen Krieg" mit Russland als Preis für den NATO-Beitritt in Kauf?

Die Ukraine wusste über die russischen Invasionspläne termingenau Bescheid und hat sich militärisch darauf vorbereitet. Das sagte der ukrainische Militärexperte und Präsidentenberater Alexei Arestowitsch in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview. Russland habe die Militäroperation mit 99-prozentiger Sicherheit im Dezember 2020 zu planen begonnen und am 26. Dezember 2021 sei es zur ersten operativen Bereitschaft gekommen. Arestowitsch nannte auch die Maßnahmen, die die Ukraine dagegen getroffen hat: 

"Die Streitkräfte und Spezialdienste wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Munition, Treibstoff und andere materielle Ressourcen wurden verteilt. Wir rekrutierten und mobilisierten Geheimdienstoffiziere und brachten sie in die Bezirke. Und dann kündigten wir eine Reihe von Übungen an, Kommandostabsübungen, unter deren Deckmantel die Mobilisierung stattfand." 

Arestowitsch ist derzeit nach Wladimir Selenskij wohl das bekannteste Mediengesicht der Ukraine. Täglich stellt er sich vor die ukrainische Flagge und verkündet die Lage von der Front, nennt Verlustzahlen des Gegners und verbreitet unter seinen Landsleuten mit Erfolgsmeldungen etwas Siegeszuversicht. Außerdem ist er ein reichweitenstarker Blogger und beliebter Interviewgast. Seine Äußerungen lösen stets Diskussionswellen aus. 

Arestowitsch ist Major der Reserve mit 12-jähriger Erfahrung beim Militär. Von September 2018 bis September 2019 diente er als Aufklärer in einer Militäreinheit an der Donbass-Front in der Ostukraine. Mitten in diese Zeit fällt ein anderes bemerkenswertes Interview vom März 2019, das angesichts der Ereignisse der letzten zwei Monate nun wie eine wahrgewordene Prophezeiung klingt. Gegenüber der Internetzeitschrift Apostroph  sagte der Militärexperte den russisch-ukrainischen Krieg, dessen Verlauf, die Begründung und mögliche Folgen voraus. 

Im Gespräch ging es um die NATO-Perspektiven der Ukraine. Als die Journalistin den Experten fragte, ob der Donbass-Krieg beendet werden könnte, wenn die Ukraine ein MAP-Status (Membership Action Plan) bekäme, sagte er, dass Russland dies höchstwahrscheinlich zu einer größeren Militäroperation gegen die Ukraine drängen würde. "Denn sie werden uns infrastrukturell wegpusten und alles hier in eine Ruine verwandeln müssen." Er hielt fest: 

"Sie (die Russen) sollten es tun, bevor wir der NATO beitreten, damit wir für die NATO nicht interessant werden. Genauer gesagt, als zerstörtes Gebiet nicht interessant. Es besteht eine 99,9-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass unser Preis für den Beitritt zur NATO ein großer Krieg mit Russland ist. Und wenn wir der NATO nicht beitreten, wird Russland uns innerhalb von zehn bis zwölf Jahren einnehmen." 

Gefragt, welche Variante die bessere sei, bestanden für Arestowitsch keine Zweifel: "Natürlich ein großer Krieg mit Russland und als Ergebnis ein Beitritt zur NATO auf der Grundlage des Sieges über Russland." Er erläuterte im Einzelnen, was ein "großer Krieg" mit Russland bedeute: 

"Es handelt sich um eine Luftoffensive, eine Invasion der russischen Armeen, die sie an unseren Grenzen aufgestellt haben, eine Belagerung Kiews, einen Versuch, die Truppen der Donbass-Operation einzukesseln, einen Durchbruch durch die Landenge der Krim, das Verschaffen des Zugangs zum Kachowskoje-Stausee, um die Krim mit Wasser zu versorgen, eine Offensive vom Territorium Weißrusslands aus, die Schaffung neuer Volksrepubliken, eine Luftlandung, Sabotageakte gegen kritische Infrastrukturen usw. Das ist ein vollwertiger Krieg. Und die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei 99 Prozent."

Er machte der Journalistin klar, dass Russland nicht darauf warten werde, dass die Ukraine eine Beitrittsperspektive durch den MAP bekommt, sondern schon viel früher handeln werde. Das stimmt mit der russischen späteren Begründung für die Invasion in die Ukraine als de facto militärisches NATO-Terrain überein, als Russland der NATO und den USA in Dezember zuerst einen Vertragsentwurf zum Rückzug der NATO vorlegte und im Fall der Absage mit einer "militärisch-technischen" Antwort drohte. Arestowitsch fasste seine Vorhersage noch einmal zusammen:

"Der Preis für einen NATO-Beitritt wird höchstwahrscheinlich ein umfassender Konflikt mit Russland sein, entweder ein größerer Konflikt mit Russland als gegenwärtig, oder eine Reihe solcher Konflikte."

Der Selenskij-Berater war sich also im Jahr 2019 sicher, dass der Westen der Ukraine mit umfassender Hilfe zum Sieg über Russland verhelfen wird – mit Waffen, Ausrüstung, neuen Sanktionen gegen Russland und sehr wahrscheinlich mit dem Einmarsch eines NATO-Kontingents, einer Flugverbotszone usw. Die Ukraine werde also nicht verlieren, was bereits eine gute Sache sei.

Drei Wochen nach Beginn der großangelegten russischen Militäroperation am 24. Februar machte Arestowitsch die ukrainischen Medien noch einmal auf seine Vorhersagen aufmerksam. Aus seiner Sicht war der Krieg mit Russland in der gegebenen geopolitischen Konstellation unvermeidlich. Russland würde die in die NATO driftende Ukraine auch dann angreifen, wenn in Russland nicht Putin, sondern ein liberalerer Präsident an der Macht wäre. 

"Denn gerade die Kollision unserer geopolitischen Platten und die Logik der globalen Konfrontation machen eine russische Militäroperation gegen die Ukraine notwendig", so Arestowitsch.

Zum Zeitpunkt des Interviews im März 2019 war der heute 46-jährige Arestowitsch Anhänger des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko, wechselte aber nach dem Sieg Wladimir Selenskijs im Präsidentschaftsrennen in dessen Team. Im Oktober 2020 wurde er zum offiziellen Sprecher der ukrainischen Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) im Minsker Format und wenige Wochen später zum Berater des Präsidenten für Fragen der strategischen Kommunikation im Bereich der nationalen Sicherheit und Verteidigung ernannt. Damit gehört Arestowitsch zum engsten Führungszirkel der Regierung in Kiew, und es ist davon auszugehen, dass seine "Prophezeiungen" dem Selenskij-Team seit Langem bestens bekannt sind. Viel eher aber ist es so, dass sie auf vom Westen mit der Ukraine geteilten geheimdienstlichen Auswertungen basieren.  

In seinem jüngsten Interview machte Arestowitsch eine weitere bemerkenswerte Anmerkung dazu, warum die ukrainische Regierung keine Sicherheitsvorkehrungen für die Zivilbevölkerung getroffen habe, obwohl sie über das genaue Datum des russischen Einmarsches Bescheid wusste. Die Bekanntgabe solcher Informationen hätte seiner Meinung nach einen Massenexodus von Flüchtlingen ausgelöst und 12 bis 13 Millionen Menschen hätten das linke Ufer des Dnjepr verlassen müssen. In diesem Fall hätten sie alle Straßen und die 50 vorhandenen Brücken (über den Fluss Dnjepr) verstopft, was den Weg der ukrainischen Ausrüstung an die Front behindert hätte. Die Einwohner hätten "mit Panzern beschossen und zermalmt" werden müssen. 

Die Donezker und Lugansker Volksrepubliken haben am 18. Februar mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Kriegsgebiet nach Russland begonnen, sechs Tage vor Beginn der russischen Militäroperation. Bis Ende März wurden damit über eine halbe Million Flüchtlinge in Sicherheit gebracht. Wie das russische Verteidigungsministerium später unter Berufung auf Geheimdokumente aus dem Bestand der ukrainischen Nationalgarde behauptete, plante die Ukraine selbst für Anfang März eine Offensive im Donbass. 

Die aktuelle, noch im März 2021 verabschiedete Verteidigungsstrategie der Ukraine sieht übrigens die Evakuierung der Bevölkerung gar nicht vor. Viel eher setzt sie im Sinne der "allumfassenden Verteidigung" auf die Bewaffnung möglichst breiter Bevölkerungsmassen und einen Guerillakampf. Damit werden zahlreiche zivile Opfer bei einem Krieg, der aus Sicht der ukrainischen Führung unvermeidbar war, von vornherein in Kauf genommen. 

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.