Meinung

Reportage: Verwundete Zivilisten im Donbass – "Würden Söldner und Nationalisten selbst hinrichten"

In Jelenowka hat ein Kleinkind bei einem der vielen Beschüsse der Ortschaften im Donbass seitens der ukrainischen Truppen am 01.07.2022 fast einen Arm verloren. Seine Mutter wurde verwundet. Die Journalistin Marina Achmedowa sprach mit ihr und anderen Patienten.
Reportage: Verwundete Zivilisten im Donbass – "Würden Söldner und Nationalisten selbst hinrichten"© Marina Achmedowa

Eine Reportage von Marina Achmedowa

Der Donbass wird weiterhin beschossen. Zu den Beschossenen zählen fast ausschließlich Zivilisten, denn es gibt keinerlei militärische Ziele in den betroffenen Städten und Dörfern. Jeden Tag sterben Menschen – jeden Tag sterben Kinder. Jeden Tag füllen sich die Krankenhäuser mit Menschen, die durch Verletzungen verstümmelt sind: ohne Arme, ohne Beine. Dies sind im Grunde die gängigsten Wunden bei Geschossexplosionen. Die Journalistin Marina Achmedowa sprach im Krankenhaus mit einer verletzten Frau, deren Familie am 1. Juli in Jelenowka im Landkreis Wolnowacha unter Beschuss geriet, sowie mit anderen Patienten eines Krankenhauses in Donezk.

Hinter ihrem Haus befindet sich ein Feld, dahinter ein kleiner Wald. Ihr Mann arbeitete mit einem Einachstraktor auf dem Grundstück. Sie wollte ihn vom Feld abholen und nahm ihren Sohn mit. Der Vater setzte den Zweijährigen aufs Ackermoped – und dann begann der Beschuss. Der Sohn wurde am übelsten zugerichtet: Der linke Arm des Kleinen war fast vollständig abgerissen. Der Ehemann rannte zur nahegelegenen Straßensperre, um Hilfe zu holen. Er traf dort auf einen russischen Soldaten, der dem Kleinen Erste Hilfe leistete und ihn in das Krankenhaus von Wolnowacha fuhr. Nur wenig später wurde das Kind nach Donezk transportiert.

Jetzt befindet sich der Junge in einem sehr ernsten Zustand. Ein Chirurg – ein Zauberer mit goldenen Händen – nähte den Arm wieder an, obwohl es kaum Chancen auf eine erfolgreiche Retransplantation gab. Der Arm fühlt sich jetzt warm an. Die Eltern sind jedoch gewarnt worden, dass der Arm möglicherweise abgestoßen wird beziehungsweise eine Amputation notwendig werden könnte.

Die Mutter selbst – ebenfalls verwundet – hatte sich mit ihrer ältesten Tochter und der Großmutter der beiden Kinder im Keller versteckt. Das zehnjährige Mädchen betete für seinen Bruder und seine Eltern, dass sie am Leben bleiben:

"In unserem Keller steht im Moment das Wasser hoch – das Blut hatte es rosa gefärbt, und so stand meine Tochter auf den Knien im Wasser und betete laut, während der Beschuss andauerte."

Die Mutter und der Vater sind beide auf dem Weg der Besserung. Das Kleinkind jedoch wird noch deutlich mehr Zeit damit verbringen müssen, um sein Leben zu kämpfen.

Und solche Geschichten von Menschen mit erschütternden Schicksalen sammeln sich jeden Tag so zahlreich an, dass man damit ein großes Buch der Trauer füllen könnte.

Dieselbe Frau erzählte mir, wie in einem Nachbardorf von Jelenowka eine Frau und ihr einmonatiges Baby ums Leben gekommen sind: Die 38-jährige Frau hatte schon seit Langem versucht, schwanger zu werden. Und das lang erwartete Wunder des Lebens trat schließlich auch ein – aber das Glück endete mit dem Einschlag eines ukrainischen Geschosses. Vom Baby blieben nur Fetzen übrig.

Ebenfalls im Krankenhaus, ein Zimmer neben dem von Frau Moros, deren Bein auf dem Bild zu sehen ist, liegt ein ukrainischer Kriegsgefangener. Wenn sie aufstehen und in sein Zimmer gehen könnte, würde sie ihm in die Augen schauen und ihm eine einfache Frage stellen:

"Wofür?"

Sie war auf dem Rückweg von ihrem Gemüsegarten, als sie von der Druckwelle einer Explosion erfasst, durch die Luft gewirbelt und auf das bereits zerstörte Haus geschleudert wurde, wo ihre nun gebrochenen Beine in die Schlackenblock-Trümmer gebohrt wurden. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie nur undurchdringliche Schwärze. Sie hatte große Schmerzen. Es tut auch jetzt noch weh. Doch das Schlimmste war die Angst, die sich für immer in ihr festsetzte. Bei Anfluggeräuschen der Geschosse, die auch jetzt in der Nähe des Klinikums vorbeiflogen, zog sie vor Angst den Kopf in die Schultern, und ihr nicht mehr junges Gesicht wurde noch gelber. Sie sagte, sie unterstütze die Todesstrafe für ausländische Söldner. Sagte es mit großer Wut – und setzte nach:

"Ja, was sind sie auch gekommen, um uns umzubringen?"

Sie sagte, gäbe man ihr ein Sturmgewehr, hätte sie die Strafe auch selbst vollstreckt. Andere Frauen, die im selben Raum lagen, sagten ebenfalls: Sie unterstützen das Urteil. Und auch sie hätten es selbst vollstreckt. Doch in diesem Moment waren sie wie ich Opfer, nicht Henker – die Stadt stand gerade unter ziemlich intensivem Beschuss. Und unten im Erdgeschoss rannten und wuselten die Ärzte herum, schubsten und drängten: Die Verwundeten wurden in die Aufnahme eingeliefert. Gerade in diesen Minuten wurde einem 15-jährigen Jungen der Arm amputiert. Und da lag ein Mann auf einer Bahre mit bedecktem Kopf. Er war gerade erst eingeliefert worden. Die Anästhesisten sagten nur:

"Das war's. Er ist nicht mehr."

Als Frau Moros sagte, dass sie ihre Peiniger, die Peiniger ihres Landes auch mit ihren eigenen Händen getötet hätte, standen mir all diese Bilder gerade vor den Augen. Ich hatte das alles ja gerade gesehen, als ich vom Erdgeschoss hinaufging. Aber Frau Moros sagte dann plötzlich:

"Vielleicht hätte ich sie auch nicht getötet – mit den eigenen Händen. Er ist auch ein Mensch. Aber ein Verbrecher ist er. Zwar hat auch ihn eine Mutter zur Welt gebracht – aber wie viele Leben hat er genommen? Doch nicht ich habe ihm das Leben geschenkt, es steht mir nicht zu, es zu nehmen. Vielleicht hätte ich ihn auch nicht getötet."

Sie lief dann noch gelber im Gesicht an – und sprach dann nicht mehr mit mir, sondern mit ihm, der höher steht. Und sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie töten würde oder nicht. Und als ich das Krankenhauszimmer verließ, konnte ich noch ihre monotone Stimme hören:

"Nicht ich habe ihm das Leben geschenkt. Ich bin keine Bestie. Aber er hat gemordet."

Durch die offene Tür der Krankenstation sah ich einen Mann, dessen Bauch von einem Splitter aufgeschlitzt und ausgeweidet worden war. Auch er hatte im Gemüsegarten gearbeitet. Neben ihm lag ein verwundeter Offizier – er war auf ein "Blütenblatt" getreten, eine aus der Luft abgeworfene oder von Raketenartillerie ausgestreute Antipersonal-Landmine, und sein Bein wurde ihm abgerissen. Er war jung, quasi gestern noch ein Kadett. Hinter der Tür saß sein Vater in Militäruniform, der von der Front gekommen war. Und dann waren da auch eine Mutter und Tochter, die sich gerade jetzt irgendwie sehr ähnlich sahen: Es war ihr Junge, ihr Sohn und Bruder, dem jetzt gerade der Arm amputiert werden musste. Sie weinten nicht – sie unterhielten sich in aller Ruhe über die dringende Notwendigkeit, die Tür der Wohnung zu ersetzen, die von einem Einschlag beschädigt wurde. Auch der Vater des jungen Offiziers saß mit ruhiger Miene da.

Und dann wurde mir klar: Genau dies war es, was sie alle erwartet hatten. Neun Jahre lang hatten sie sich an den Gedanken gewöhnt – sich selbst zum Gedanken konditioniert –, dass es eben eines Tages so weit sein würde. Und sie sind mehr überrascht, dass es sie selbst nicht trifft, als wenn es sie trifft. Von alledem, was die Ukraine mit Donezk gemacht hat, ist dies das Schlimmste.

"Und wenn man Ihnen anbieten würde, Henker zu werden?"

Diese Frage stellte ich leise, nachdem ich mich ebenso leise und unauffällig neben den Vater des Offiziers gestellt hatte. Er sah mich mit ruhigen Augen an. Ich hatte absichtlich ein so grausames Wort gewählt – 'Henker'.

"Würden Sie ausländische Söldner erschießen? Mitglieder der nationalistischen Bataillone?"

"Aber Hals über Kopf würde ich das", antwortete er. Und er wiederholte das viele Male –

"Aber Hals über Kopf."

"Es tut mir leid", sagte ich, "dass Ihr Sohn sein Bein verloren hat".

Er hob ein Bein und schlug es gegen das andere. Ich hörte ein metallisches Geräusch. Und er sagte:

"Das gleiche Bein. Also – Hals über Kopf."

Ich ging auf die Straße. Ein Verwundeter nach dem anderen wurde eingefahren. Die Stadt wurde gerade zusammengeschossen, nahe und fern waren Einschläge zu hören. Doch am erschreckendsten waren für mich die monotonen Worte der verwundeten Frau Moros – die Selbstdiskussion darüber, ob sie töten würde oder nicht – und was der Vater des jungen Offiziers mir geantwortet hatte:

"Aber Hals über Kopf."

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Übersetzt aus dem Russischen. Original-Material erschien bei Wolnaja Kuban Press und auf dem Telegram-Kanal der Journalistin Marina Achmedowa.

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