Meinung

Koreanisches Szenario: Wo könnte der russisch-ukrainische "38. Breitengrad" verlaufen?

Über eine Beendigung des Konflikts in der Ukraine nach einem "koreanischen Szenario" mit einer Aufteilung des Landes wird zurzeit nicht verhandelt. Dennoch kann es eine realistische Option sein – wenn der Westen dafür bereit ist.
Koreanisches Szenario: Wo könnte der russisch-ukrainische "38. Breitengrad" verlaufen?Quelle: AFP © BULENT KILIC / AFP

Von Geworg Mirsajan

Der kollektive Westen verbreitet weiterhin Fakes zum Thema "Russland bettelt um Verhandlungen". Diesmal zeichnete sich der Sekretär des Rats für nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine, Alexei Danilow, aus. Er erzählte von einem "koreanischen Szenario", das angeblich von Moskau dem Westen vorgeschlagen worden sei. Dabei handele es sich um ein Einfrieren des Konflikts entlang irgendeiner natürlichen Linie (auf der koreanischen Halbinsel handelte es sich um den 38. Breitengrad). Das Einfrieren wäre dabei nicht vorübergehend, sondern permanent.

Moskau verneint jegliche solche Verhandlungen – laut dem Pressesekretär des russischen Präsidenten Dmitri Peskow spreche niemand davon, es sei ein weiterer Fake. Und tatsächlich verhandelt Russland weder über das koreanische noch über irgendein anderes Szenario, weil es heute gar keine Grundlagen dafür gibt. Auch der Westen ist nicht zu einem annehmbaren Kompromiss und zum Wunsch, Russland um etwas zu bitten, bereit.

Die Ironie der Situation besteht allerdings darin, dass das sogenannte koreanische Szenario in Zukunft durchaus lebensfähig sein könnte. Mehr noch, nach Meinung einiger Experten ist es die Basisformel für ein endgültiges Abkommen über die Ukraine – sobald Moskau den Westen zwingt, es anzunehmen.

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Man sollte verstehen, dass es beim koreanischen Szenario weder um einen Waffenstillstand noch um eine vorübergehende Feuerpause und schon gar nicht um ein Einfrieren des Konflikts geht. Im Grunde ist es ein Aufteilen der Ukraine in zwei Teile, das durch ein entsprechendes Abkommen fixiert wird.

Damit unterscheidet sich die koreanische Variante grundlegend von Analogen der Chassawjurt-Abkommen, die Moskaus Gegner heute vorschlagen. Letztere sehen vor, dass entweder die Gebiete Cherson und Saporoschje (wie es die westlichen "Tauben" vorschlagen) oder diese beiden Gebiete sowie die LVR und die DVR (Ansicht der westlichen "Falken") oder gar all diese Gebiete sowie die Krim und Reparationen (wie es das Kiewer Regime möchte) an die Ukraine gehen. Dabei versteht man sogar in Kiew, dass keines dieser Szenarien für Moskau annehmbar ist.

Diese Variante unterscheidet sich auch vom Plan, der von russischen Turbo-Patrioten vorgeschlagen wird – die Militäroperation bis zum Erreichen der polnischen Grenze bei Lwow weiterzuführen. Es ist klar, dass dieses Ergebnis nicht eintreten oder dass es mit extremen Verlusten verbunden sein wird. Zumindest deshalb, weil nach einem Kollaps des Kiewer Regimes (was der russischen Armee ein so weites Vordringen erst ermöglichen würde) die Westukraine von Polen besetzt wird. Warschau bereitet jetzt schon aktiv eine Besatzungstruppe vor. Darüber hinaus würde der westukrainische Rumpfstaat USIL – Ukrainischer Staat von Iwano-Frankowsk und Lwow, um es in Worten des stellvertretenden Verwaltungsoberhaupts von Saporoschje, Wladimir Rogow, zu formulieren [Eine Anspielung auf die Abkürzung ISIL. Anm. d. Ü.] – wegen starker antirussischer Stimmungen zu einer ernsthaften Belastung für Russland werden. Wir leben nicht zu Zeiten Stalins, als der NKWD es sich leisten konnte, mit Bandera-Terroristen nicht zimperlich zu sein und als die Angliederung dieser Gebiete im Jahr 1939 teilweise Moskau im Jahr 1941 gerettet hatte. Damals schaffte es die Wehrmacht zeitlich nicht, die Hauptstadt vor dem Winter zu erreichen.

Gerade deswegen wird die russische spezielle Militäroperation voraussichtlich durch ein koreanisches Szenario beendet, nämlich durch ein Aufteilen der Ukraine zwischen Russland und dem Westen. Doch bisher ist der Westen dazu schlicht nicht bereit – man hofft immer noch, Moskau zu brechen. Die russische Zustimmung für ein koreanisches Szenario würde dem Westen zeigen, dass es keine anderen Varianten geben wird. Mit einfacheren Worten: Russland muss Kiew eine Reihe von schweren Niederlagen beibringen, und die Befreiung von Soledar ist ein erster Schritt auf diesem Weg. Zweitens müsste sich für eine Realisierung dieses Szenarios eine entsprechende Frontlage gestalten. Das Szenario sieht keine Übergabe von irgendwelchen zusätzlichen Gebieten an Russland vor – für den Wesen wäre es eine schwere Demütigung. Das Szenario sieht nur eine vertragliche Fixierung der tatsächlichen Lage vor. Das heißt, dass vor einem solchen Abkommen Moskau das Pendant des "38. Breitengrads" erreichen müsste.

Der richtige Breitengrad

Die Frage ist nun, was genau dieser "Breitengrad" für Moskau ist. Offensichtlich sieht das Minimalprogramm wie folgt aus: Erstens, alle russischen Gebiete und Städte. Das koreanische Szenario sieht ein schriftliches Abkommen mit Unterschriften der Parteien vor, und Russland kann kein Abkommen unterzeichnen, das selbst eine vorübergehende Aufgabe russischer Gebiete an Gegner vorsieht. Dies verbietet die russische Verfassung. Zweitens muss die ukrainische Grenze von Moskau möglichst weit weg verlegt werden, um die Anflugzeit von Raketen zu maximieren.

Heute ist das Gebiet Tschernigow weniger als 500 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt. Drittens muss Russland eine Landbrücke nach Transnistrien erhalten. Anderenfalls wird dieses von einigen Hunderttausend russischen Staatsbürgern bewohnte Gebiet zwischen der Ukraine und Rumänien festgeklemmt und zu einem Opfer militärischer Provokationen werden. Dann müsste Moskau den Waffenstillstand verletzen und sich zur Rettung seiner eigenen Bürger durch die Ukraine schlagen. Ein Eingriff über Rumänien wäre unmöglich, denn er würde den 5. Artikel der NATO aktivieren und einen Atomkrieg auslösen.

Man könnte meinen, dass zum "38. Breitengrad" der Fluss Dnjepr werden könnte – gerade davon sprechen die Anhänger eines "koreanischen Szenarios". Russland würde das linke Ufer und die Ukraine das rechte Ufer erhalten. Doch ist diese Grenze nicht ganz relevant. Ja, es verschiebt die ukrainische Grenze um etwa 200 Kilometer von Moskau weg. Doch sowohl die russische Stadt Cherson mit dem Großteil der Bevölkerung des gleichnamigen Gebiets als auch Nikolajew und Odessa, die einen Teil der Landbrücke nach Transnistrien darstellen, liegen am rechten Dnjepr-Ufer.

Mehr noch, die russischen Streitkräfte können den Dnjepr nicht im Gebiet Cherson überqueren und die russischen Städte befreien, weil die Überquerung mit großen Verlusten verbunden wäre. Viel einfacher wäre es, das rechte Ufer bei Saporoschje oder Dnjepropetrowsk nach deren Befreiung zu erreichen und dann nach Odessa vorzustoßen. Dabei würden die Städte Kriwoj Rog und möglicherweise Kirowograd (heute Kropiwnizki) und einige weitere Gebiete am rechten Ufer befreit werden. Offensichtlich würden sie nicht an die Ukraine zurückgegeben werden.

Gerade deshalb stehen die genauen Umrisse eines koreanischen Szenarios heute noch nicht fest, genauso wenig wie der Zeitpunkt des Beginns ernst gemeinter Verhandlungen zu diesem Thema noch nicht bestimmt ist. Erinnern wir uns, dass der Waffenstillstand in Korea erst vereinbart wurde, nachdem zwei Bedingungen eingetreten waren. Die Kriegsparteien konnten nicht weiter vordringen und akzeptierten für sich, dass es zu einer offiziellen Aufteilung von Korea keine Alternative gibt. Daher besteht heute Moskaus Aufgabe darin, die USA und Europa von einer Annahme des "koreanischen Szenarios" zu überzeugen – genauer gesagt, sie dazu zu zwingen.

Die Frage ist nun, wie viel Zeit dieses Überzeugen in Anspruch nimmt. Offenbar handelt es sich nicht um Wochen und nicht einmal um Monate. Wir können es abwarten. Doch kann es die Ukraine?

Übersetzt aus dem Russischen, zuerst erschienen bei Wsgljad.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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