Europa

Ölembargo, aber nicht ganz und nicht für alle

Die EU-Kommission hat den europäischen Staaten ein weiteres, sechstes Sanktionspaket gegen Russland vorgeschlagen. Das härteste Instrument ist das Öl-Embargo gegen Russland. Bei genauem Hinsehen stellt sich dieses Embargo allerdings als seltsames Konstrukt heraus.
Ölembargo, aber nicht ganz und nicht für alleQuelle: Sputnik © Witalij Podwitzkij / RIA Novosti

Eine Analyse von Geworg Mirsajan

Das von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst empfohlene Sanktionspaket gegen Russland besteht sowohl traditionell aus demonstrativen Handlungen als auch gleichzeitig aus durchaus schmerzhaften Schlägen. Und schmerzhaft sind diese für Russland, aber auch für die Europäische Union selbst.

Zu den demonstrativen Handlungen gehört die erstellte "Liste hochrangiger Offiziere und anderer Personen, die in Butscha Kriegsverbrechen begangen haben und für die unmenschliche Belagerung der Stadt Mariupol Verantwortung tragen". Gegen diese Personen werden Sanktionen verhängt. Und während die Liste derjenigen, die Mariupol befreit haben, bekannt ist und generell von niemandem verheimlicht wird (die Leute erhalten Medaillen und Auszeichnungen), gibt es Fragen bezüglich der Butscha-Liste.

Denn eigentlich sollte die Liste Namen der Offiziere der ukrainischen Streitkräfte enthalten, die Butscha mit Artillerie beschossen haben, sowie Namen der Beamten des ukrainischen Geheimdienstes SBU, von Mitgliedern der Strafkommandos und des ukrainischen "Volkssturms", die Bewohner der Stadt mit weißen Armbinden ermordeten und deren Leichen auf den Straßen verteilten. Ja, westliche Anbieter von "Informationen" wie Bellingcat hatten den Auftrag, eine "russische" Liste zu erstellen, doch sie haben ihre Aufgabe nicht besonders professionell erfüllt – in ihrer Liste (die wahrscheinlich von den europäischen Behörden übernommen wird) sind eine Reihe von Personen aufgeführt, die an der russischen Sonderoperation in der Ukraine überhaupt nicht beteiligt waren.

Man fragt sich außerdem, warum beispielsweise diejenigen nicht auf der Sanktionsliste stehen, die das "Kriegsverbrechen in Kramatorsk" begangen haben, als dort bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der Stadt 57 Menschen getötet wurden. Und warum wird das Thema Kramatorsk überhaupt so sorgfältig ausgeklammert? Vielleicht deshalb, weil diese ukrainische Provokation derart schlecht ausgeführt war (denn bei dem Angriff wurde ein Raketentyp verwendet, den die russische Armee nicht mehr besitzt), dass selbst hartgesottene europäische Bürokraten davor zurückschrecken, diese Sache anzufassen?

Eine andere Sanktion des sechsten Pakets stellt einen weiteren Schlag gegen die Rede-, Informations- und Pressefreiheit dar. Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission: 

"Wir verhängen auf unseren Frequenzen ein Verbot für drei große russische Staatssender. Ihnen wird es nicht mehr erlaubt sein, ihre Inhalte in der EU in irgendeiner Form zu verbreiten: über Kabel- und Satellitenübertragung, im Internet oder über Apps auf Smartphones. Wir haben diese TV-Kanäle als Sprachrohre identifiziert, die aggressiv Lügen und Propaganda von Putin verbreiten. Wir dürfen es ihnen nicht länger erlauben, Lügen zu verbreiten".

Im Wesentlichen geht es ihr um den Wunsch, den Zugang zu alternativen Informationen maximal einzuschränken, denn eine beträchtliche Anzahl von Europäern vertraut weder den Fiktionen der BBC (die sich während der Kriege im Nahen Osten einen Meistertitel im Fälschen von Nachrichten verdient hat), noch dem Spiegel (der sich auch für seine Fake News, die zum Sturz des österreichischen Kabinetts im Jahr 2019 führten, bislang niemals entschuldigt hat). Man liest in den westlichen Medien dubiose Artikel über ukrainische "Freiheitskämpfer", vergleicht diese Artikel mit den persönlichen Erfahrungen, die man mit den Kämpfern gemacht hat (die Europa überschwemmten und die Einheimischen mit ihren rüpelhaften Flashmobs verärgerten), woraufhin man den russischen Standpunkt nachvollziehen möchte. Und die Europäische Kommission bemüht sich intensiv darum, den Interessierten diesen Einblick zu verwehren.

Ein dritter Bestandteil des Sanktionspakets werden weitere, neue Beschränkungen gegen russische Banken sein.

"Wir koppeln die Sberbank, Russlands größte Bank, und zwei weitere Großbanken vom SWIFT-System ab. Auf diese Weise werden wir Banken treffen, die systemisch und von entscheidender Bedeutung für das russische Finanzsystem sind und Putin befähigen, die Zerstörung zu bezahlen. Das wird die vollständige Isolierung des russischen Finanzsektors vom globalen System verstärken",

sagt von der Leyen.

Die Maßnahme ist sicherlich unangenehm, doch haben sich die Russische Föderation als Ganzes und die Sberbank im Besonderen darauf vorbereitet.

Das Kronjuwel des sechsten Sanktionspakets dürfte ein Importverbot für russisches Erdöl und auch für Erdölprodukte sein. Von der Leyen dazu:

"Das wird ein komplettes Einfuhrverbot für alles russische Erdöl sein: Lieferungen auf dem Seeweg und über Pipelines, Rohöl und Produkte der Ölverarbeitung. Wir werden uns darum bemühen, den Ausstieg aus dem russischen Erdöl schrittweise und geordnet zu vollziehen, damit wir und unsere Partner alternative Lieferwege sichern und die Auswirkungen auf den Weltmärkten minimieren können. Genau aus diesem Grund werden wir die Rohöllieferungen aus Russland innerhalb von sechs Monaten und die Raffinerielieferungen bis Ende des Jahres auslaufen lassen".

Die Frist von sechs Monaten ist kein Zufall – die EU-Kommission macht damit Zugeständnisse an die Länder, die nicht bereit sind, jetzt schon auf russische Erdölprodukte zu verzichten. Dass einige der europäischen Raffinerien nicht auf die Verarbeitung von anderem als dem russischem Erdöl ausgelegt sind (so in der Slowakei), dass sie über keine Logistik für Lieferungen aus alternativen Quellen verfügen (wie Ungarn) oder dass eine (zu Pipelines) alternative Hafeninfrastruktur (für Deutschland) modernisiert und überarbeitet werden müsste, kümmert diese EU-Kommission wenig. Darüber hinaus wird spekuliert, dass man bereit sei, im Falle Ungarns und der Slowakei eine noch längere Frist, nämlich von bis zu 20 Monaten einzuräumen.

In der Folge schrieben bereits zahlreiche Medien über das Ölembargo, es sei nicht nur eine beschlossene Sache, sondern beinahe tödlich für Russland. Dass der europäische Markt für das russische schwarze Gold geschlossen sei und dass es nicht möglich sei, den russischen Export auf andere Märkte umzuleiten. Diese triumphalen Meldungen sind jedoch völlig übertrieben.

Erstens wissen die Ungarn die Großzügigkeit der EU gar nicht zu schätzen und beabsichtigen nicht, für diesen Sanktionsentwurf zu stimmen.

"Das Sanktionspaket aus Brüssel wird die Sicherheit der ungarischen Energieversorgung zerstören. Dieses Sanktionspaket kann in der vorliegenden Form von uns nicht verantwortungsvoll unterstützt werden ... Es ist schlicht eine physische, geografische und infrastrukturelle Realität",

sagte der Außenminister des Landes Peter Szijjártó. Nach Ansicht des Ministers "könnte Ungarn diesen Sanktionsmaßnahmen nur dann zustimmen, wenn es eine Ausnahmeregelung zu den Beschränkungen für Erdöllieferungen über Pipelines" geben würde.

Zweitens sind nicht nur die slowakischen Raffinerien auf russisches Öl ausgelegt, und nicht nur in Deutschland ist die Infrastruktur nicht darauf vorbereitet, Tankerflotten mit dem schwarzen Gold aus dem Nahen Osten aufzunehmen. Es ist daher möglich, dass Ungarn und die Slowakei (falls das Paket doch angenommen wird) zu Super-Käufern von russischem Erdöl werden, das dann an europäische Länder weiterverkauft wird. Oder die europäischen Kunden werden gezwungen sein, sogenannte Mischungen zu kaufen, also russisches Erdöl, dem Öl aus anderen Quellen beigemischt wird, damit es offiziell nicht mehr als "russisch" gilt.

All diese Schwierigkeiten, Feinheiten und Doppeldeutigkeiten veranschaulichen perfekt die Unentschlossenheit und niedrige Qualität der Planung der europäischer Bürokratie, ebenso deren absolute Abgehobenheit von den wirtschaftlichen Realitäten in ihren "eigenen" Ländern, wo die Menschen bereits jetzt wegen der zunehmenden Inflation und insbesondere wegen der steigenden Preise für Erdölprodukte und Benzin aufschreien. Und anstatt in ihren eigenen Ländern zu investieren, um das Wohlergehen der EU-Europäer zu steigern, spricht Ursula von der Leyen von der Absicht, Milliarden von Euro in den Wiederaufbau der Ukraine zu stecken (oder doch vielmehr in die Geldbörsen der ukrainischen Oligarchen, die sich während der russischen Sonderoperation verausgaben?), sowie von der Fortsetzung des Sanktionskrieges gegen Russland.

Und einige baltische Länder in Osteuropa sind schon dabei, in vorauseilendem Gehorsam vorzupreschen. So verkündete etwa die estnische Außenministerin Eva-Maria Liimets: 

"Wichtig sind Diskussionen über diejenigen Bereiche der russischen Wirtschaft, über die wir uns noch nicht einigen konnten. Ein solches schrittweises Vorgehen ist zu beobachten, und das ist das Wichtigste, so dass wir nach dem sechsten Sanktionspaket in Richtung des siebten Sanktionspakets gehen können". 

Geht es nach Estland und Polen, sollten die Sanktionen auch Beschränkungen der russischen Erdgas-Lieferungen umfassen, ohne die Deutschlands Wirtschaft (ganz zu schweigen von der Ungarns) einfach zusammenbrechen würde. Doch für Ursula von der Leyen, einst Anwärterin auf das Amt der deutschen Bundeskanzlerin, spielen solche Kosten keine Rolle – für sie ist es wichtiger, Russland zu strafen und der Ukraine zu helfen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Russischen

Geworg Mirsajan ist Politologe, Journalist und Dozent an der Finanzuniversität

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