Europa

Transnistrien: Rumänien bereit für ein militärisches Abenteuer?

Schon lange trachten die Eliten in Moldawien und Rumänien nach einem Groß-Rumänien. Ein Stolperstein ist hierbei die Unabhängigkeit Transnistriens. Derzeit sind die russischen Streitkräfte durch die Spezialoperation in der Ukraine gebunden. Ist das die Gelegenheit für Chișinău und Bukarest?
Transnistrien: Rumänien bereit für ein militärisches Abenteuer?Quelle: Legion-media.ru © MoiraM

Von Witali Trofimow-Trofimow

Große Konflikte, die sich auf große Territorien auswirken und die wirtschaftliche Gesamtsituation in Europa negativ beeinflussen, waren schon immer ein Nährboden für politische Abenteurer. In einer chaotischen Situation, in der der Fokus der Weltmächte darauf gerichtet ist, eine Eskalation der Gewalt zu verhindern und konkrete militärische Maßnahmen zu ergreifen, versuchen die Akteure in der unteren Liga oft, ihre eigenen Probleme zu lösen.

Gerade kam gesondert die Frage von Transnistrien im Zusammenhang mit der militärischen Spezialoperation auf. Zurzeit haben Moldawien und Rumänien die Gelegenheit, das transnistrische "Problem zu lösen", solange die russischen Streitkräfte mit der Spezialoperation beschäftigt sind.

Ein kurzer Rückblick auf den Konflikt

Ungeachtet der engen historischen Beziehungen zwischen Bessarabien und Rumänien fühlen sich die Bürger Moldawiens, das zum größten Teil aus Bessarabien besteht, seit jeher zu Russland hingezogen. Als die sowjetische Regierung auf der Wiener Konferenz im Jahre 1924 ein Referendum in Bessarabien vorschlug, wies Rumänien, das die Region seit 1917 okkupiert hielt, den sowjetischen Vorschlag im vollen Bewusstsein der Folgen einer Willensäußerung zurück.

Der gegenwärtige Konflikt begann im selben Jahr, 1924, als ukrainische Gebiete mit einer nennenswerten moldawischen ethnischen Minderheit in die Autonome Republik Moldawien umgewandelt wurden. Diese umfasste einen Teil der Region Odessa und einen Großteil des heutigen Transnistrien. Im Jahr 1940 forderte die Regierung der UdSSR die Regierung des deutschfreundlichen Rumänien auf, die Okkupation der sowjetischen Territoriums Bessarabien unverzüglich zu beenden. Nachdem es nicht gelungen war, die Unterstützung Nazi-Deutschlands und des faschistischen Italiens zu gewinnen, lenkte Rumänien ein. Noch am selben Tag, dem 28. Juni, überquerten sowjetische Panzer den Fluss Dnjestr und nahmen das Territorium der heutigen Republik Moldawien ein. Dieses Territorium wurde auf der VII. Tagung des Obersten Rats der Sowjetunion am 2. August 1940 als vollgültige Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik (SSR) zu einer der Republiken der UdSSR erklärt. Ein Teil Bessarabiens wurde Rumänien überlassen, ein anderer Teil des ehemaligen moldawischen Autonomiegebiets kehrte zur Ukraine zurück. Seither blieben die Moldawische SSR und später die Republik Moldawien bei dieser ethnischen Aufteilung. Die mit den Rumänen ethnisch verwandten Moldawier und die politisch inaktive gagausische Minderheit bewohnen vier Fünftel des Territoriums, während die russisch-ukrainische Bevölkerung, die sich dicht am linken Ufer des Dnjestr angesiedelt hat, zusammen mit den russifizierten Vertretern anderer Nationalitäten das übrige Fünftel ausmachen.

In den 1980er-Jahren liefen in Moldawien genau dieselben Prozesse ab wie in der Ukraine in den letzten zwei Dekaden: Eine nationalistische Bewegung wurde aktiv, die eine Statuserweiterung der moldawischen Sprache forderte, Xenophobie und insbesondere Russophobie predigte. Aus dieser Bewegung ging die Moldawische Volksfront hervor, die eine Abspaltung von der UdSSR und Vereinigung mit Rumänien forderte. Unter dem Einfluss dieser Forderungen gewährte der Oberste Rat der Moldawischen SSR am 31. August 1989 der moldawischen Sprache den Status der einzigen Amtssprache. Daraufhin wurde mit der Schließung der russischsprachigen Schulen begonnen. Im Gegenzug fand in Tiraspol der II. außerordentliche Kongress der Abgeordneten aller Ebenen Transnistriens statt, der die Unabhängigkeit Transnistriens proklamierte und eine entsprechende Erklärung verabschiedete.

Um das Jahr 1992 herum entwickelte sich der Konflikt zwischen der prorumänischen Republik Moldawien und dem prorussischen Transnistrien zu einer bewaffneten Konfrontation, die zahlreiche Opfer forderte. Erst nach einer russischen Militärintervention und der Stationierung einer russischen Friedenstruppe wurden die Kampfhandlungen beendet. Danach galt der Konflikt als eingefroren, und Transnistrien existierte von 1992 bis 2023 als Staat ohne Anerkennung.

Hohe Wetteinsätze

Heute existieren sowohl in Rumänien als auch in der Republik Moldawien politische Kräfte, die zumindest an einem Unionsvertrag interessiert sind, sofern kein föderaler möglich ist. Die radikalen Nationalisten in Moldawien sind ebenfalls für eine Integration mit Rumänien als autonome Regionen. Alles, was nötig ist, ist die Entfernung des Wappens aus der moldawischen Flagge, die Durchführung von Wahlen und die Umstellung auf den Euro. Doch es gibt Nuancen.

Das Besondere an der staatlichen Entwicklung der Moldawischen SSR seit 1924 bestand in der Lokalisierung der wichtigsten Produktionskapazitäten auf dem moldawischen Autonomiegebiet, d. h. im heutigen Transnistrien. Zu Zeiten der Sowjetunion waren sieben von zehn Industrieanlagen auf 12,5 Prozent des moldawischen Territoriums angesiedelt. Und als die moldawischen Nationalisten die Frage der Wiedervereinigung mit Rumänien und des Beitritts zur Europäischen Union durch die "Hintertür" aufwarfen, ist klargeworden, dass die Rumänen ein Moldawien ohne Transnistrien nicht brauchen. Ohne diese Region bedarf Moldawien hoher Subventionen, während es zusammen mit Transnistrien eine profitable wirtschaftliche Akquisition darstellt.

Rumänien ist genau wie Polen dafür bekannt, Fantasielandkarten zu erstellen, auf denen sie fremdes Territorium beanspruchen. Ihren Ursprung findet diese Schalkhaftigkeit in alten und neuen geopolitischen Konzepten. Die bekanntesten von ihnen sind das Konzept von Großrumänien, das die Erweiterung der Grenzen nicht nur zulasten der Republik Moldawien, sondern auch einiger Gebiete Ungarns, Serbiens und Polens vorsieht, und die gemäßigtere Idee von Transnistrien, die darauf abzielt, die Expansionsbemühungen auf die Eroberung der Republik Moldawien, Transnistriens und der ukrainischen Gebiete im südlichen Bug, einschließlich Odessa und Otschakow, zu beschränken. Bei allen ist Moldawien das Hauptanliegen. Und was noch trauriger ist, sie wurden teilweise bereits in verschiedenen historischen Perioden verwirklicht. "Großrumänien" erreichte seinen Höhepunkt zwischen dem Zweiten Balkankrieg 1913 und dem Fall Österreich-Ungarns im Jahr 1918. Das Gouvernement Transnistrien wurde am 19. August 1941 gebildet und 1944 von sowjetischen Truppen während der strategischen Offensive am Dnjepr und in den Karpaten liquidiert.

Solange russische Friedenstruppen in Transnistrien stationiert sind, können die moldawischen Behörden von der Einnahme Tiraspols und der Angliederung an Rumänien nur träumen. In den Nullerjahren bestand die Einsatzgruppe der russischen Truppen in der Region Transnistrien hauptsächlich aus technischen Einheiten, doch selbst das reichte aus, um die Hoffnung der moldawischen Armee und Polizei auf einen erneuten Militäreinsatz zu beenden.

Der Konflikt galt auch deshalb als eingefroren, weil Russland der transnistrischen Moldawischen Republik praktisch nichts anzubieten hatte. Wäre sie an der Grenze zu Weißrussland gelegen, hätte man ernsthaft nach Möglichkeiten der Integration im Rahmen eines Unionsstaates Russland-Weißrussland-Transnistrien suchen können. Und solche Vorschläge hörte man auch immer wieder. Aufgrund der Lage dieser Exklave, zwischen der Ukraine und der Republik Moldawien eingezwängt und vom Schwarzen Meer abgeschnitten, waren diese Vorschläge jedoch reine Erklärungen ohne weitere politische oder wirtschaftliche Folgen.

Ein günstiger Moment

Mit der Machtübernahme der neuen Präsidentin Maia Sandu in der Republik Moldawien wurden in Rumänien wieder Stimmen über die Notwendigkeit laut, etwas mit der Republik Moldawien zu unternehmen.

Anfang März erklärte der rumänische Ministerpräsident Nicolae Ciucă: "Wir beobachten immer mehr Versuche, die Republik Moldawien zu destabilisieren, künstlich Spannungen aufzubauen und feindselige Narrative zu verbreiten, die auf der absichtlichen Verbreitung von Falschinformationen beruhen." Zuvor hatte die Sandu erklärt, es gebe Versuche, die verfassungsmäßige Ordnung in der Republik zu ändern. Diesem Chor hat sich auch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij angeschlossen, der bereits ein Land zerstört hat und nun ein weiteres im Visier hat. In seiner jüngsten Äußerung behauptete er, der ukrainische Geheimdienst habe zuvor einen "russischen Plan" zur "Zerstörung der demokratischen Ordnung" in Moldawien abgefangen. Die Rede ist von der Weitergabe von Unterlagen durch den Sicherheitsdienst SBU an die moldawischen Behörden, in denen Anweisungen für die Einreiseregeln von Bürgern aus Russland, Weißrussland, Serbien und Montenegro in die Republik Moldawien enthalten seien, damit diese entweder Straßenproteste abhalten oder Terroranschläge verüben können. Dies geschah vor dem Hintergrund der im Internet verbreiteten Informationen über die Ansammlung ukrainischer Streitkräften an der Grenze zu Transnistrien.

Und warum taut der Konflikt gerade jetzt wieder auf? Seit 2012 wird Rumänien von einer Mitte-Rechts-Koalition im Parlament beherrscht. Nationalisten und Liberal-Nationalisten – die Großrumänien-Partei, die Nationale Christdemokratische Bauernpartei und die National-Liberale Partei – haben großen Einfluss. In Moldawien kamen die Nationalisten ebenfalls an die Macht. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Jahr 2021 errang die rechtsgerichtete Partei der Aktion und Solidarität eine Mehrheit (52,8 Prozent der Stimmen). Sandu ist ebenfalls eine nationalistische Politikerin und Befürworterin der Integration mit Rumänien. Sie trat die Nachfolge Igor Dodons an, der ehemaliger Vorsitzender der Partei der Sozialisten der Republik Moldawien und ein prorussischen Politiker ist.

In der Wirtschaft der Region haben sich ebenfalls große Veränderungen vollzogen. Dank des regen Handels und der Reformen konnte die Republik Moldawien ihre Wirtschaftsleistung steigern. Das kaufkraftbereinigte BIP belief sich im vergangenen Jahr auf 36,886 Milliarden Dollar, was einem Pro-Kopf-Einkommen von 14.257 Dollar entspricht. Moldawische Bauherren und Handwerker gehören langsam der Vergangenheit an. Die rumänischen Zahlen sind viel höher: Das kaufkraftbereinigte BIP beträgt 704,355 Milliarden Dollar, was einem Pro-Kopf-Einkommen von 36.446 Dollar entspricht und damit mehr als doppelt so hoch ist wie das moldawische. In Transnistrien beträgt das kaufkraftbereinigte BIP nur 1,0522 Milliarden Dollar und das Pro-Kopf-BIP nur 2.074 Dollar.

Der nicht anerkannte Staat hat all die Jahre – von 1992 bis 2023 – mit Sanktionen und Handelsbeschränkungen existiert. Die Industriekapazitäten – das Moldawische Metallwerk, das Cuciurgan-Kraftwerk, die Textilfabrik von Tirotex, die Wein- und Cognacfabrik Kvint, das Unternehmen Sheriff und andere – verloren ihre Kapitalisierung und hatten Probleme mit der Modernisierung. Und nach der Inbetriebnahme von TurkStream gibt es keinen Bedarf mehr an den drei internationalen Gaspipelines, die Transnistrien hätten passieren müssen, weil die Ukraine ebenfalls ein Transitland wäre. Mit anderen Worten: Moldawien ist für die rumänischen Behörden eine subventionierte und arme Region geblieben, der Sinn einer Annexion Transnistriens ist im Laufe der Jahre verschwunden.

Die militärische Spezialoperation in der Ukraine vervollständigt dieses Bild. In einem für den Westen negativen Szenario – nach der Niederlage der Ukraine – hörte diese auf, ein NATO-Frontstaat zu sein, und Moldawien würde zu einem solchen. Man wird jetzt deshalb die bescheidenen moldawischen Streitkräfte nach NATO-Standards neu bewaffnen und ausbilden. Das Problem des transnistrischen Separatismus muss gelöst werden, denn dass es keine umstrittenen Territorien und rebellischen Regionen gibt, ist eine Voraussetzung für den Beitritt zum westlichen Militärblock. Dieser Grundsatz wurde in Kleinigkeiten missachtet, das wird in Bezug auf Transnistrien aber nicht der Fall sein. Zu erwarten ist die Ausübung von Druck auf Bukarest durch EU und NATO im Hinblick auf die Integration mit der Republik Moldawien, aber auch mit Provokationen gegen Transnistrien ist zu rechnen. Da die russischen Streitkräfte nun in die Kampfhandlungen verwickelt sind, wird es den russischen Friedenstruppen in Tiraspol nicht leicht fallen, den Ansturm zurückzuhalten.

Dieser Kontext erfordert auch von Russland bestimmte Maßnahmen. Die Frage eines Landkorridors nach Transnistrien über Odessa wird derzeit konkretisiert. Die ersten Schritte in diese Richtung werden wir vielleicht schon im Sommer sehen, aber das wird davon abhängen, wie aktiv sich Rumänien, Moldawien und die Ukraine an dem transnistrischen Abenteuer beteiligen werden.

Zuerst erschienen bei Wsgljad. Übersetzt aus dem Russischen.

Mehr zum Thema - Die eskalierende Lage in Moldawien: Eine Übersicht

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.