Europa

Italien nach der Regierungskrise: Die Pro-EU-Kräfte gewinnen Zeit

Die politische Krise in Italien hatte sich monatelang zusammengebraut. Sie brach am 8. August aus, als der Lega-Chef und damalige Innenminister Matteo Salvini Neuwahlen forderte. Am 5. September endete sie schließlich mit der Ankündigung einer neuen Regierung.
Italien nach der Regierungskrise: Die Pro-EU-Kräfte gewinnen ZeitQuelle: Reuters

von Pierre Lévy 

Dieses Kabinett, das sich stark vom vorherigen unterscheidet – auch wenn sein Vorsitzender, Giuseppe Conte, schließlich in seinem Amt bestätigt wurde –, soll in den kommenden Tagen durch eine Abstimmung des Senats und der Abgeordnetenkammer bestätigt werden. Die vielen Parlamentarier, die befürchteten, bei vorgezogenen Wahlen ihre Sitze zu verlieren, sowie die europäischen Führer und Pro-EU-Truppen in Italien und die Finanzmärkte (die sich erholten, sobald die neue Exekutive bestätigt wurde) atmeten tief durch. Aber die meisten dieser Kräfte sind sich bewusst, dass die Atempause nur vorübergehend ist. 

Der populäre Vorsitzende der Lega hatte Anfang August hoch gepokert, indem er einen Misstrauensantrag gegen seine eigene Regierung ankündigte. Er hatte argumentiert, dass der Kleinkrieg zwischen den beiden Kräften, die sich 14 Monate zuvor auf eine Regierungskoalition geeinigt hatten, immer heftiger wurde. Eine Situation, die tatsächlich zu einer Reihe von Blockaden geführt hatte. 

Seine ehemaligen Verbündeten von der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S, gegründet vom Komiker Beppe Grillo und als populistisch eingestuft) und seine Gegner warfen ihm vor, er wolle im alleinigen Interesse seiner Partei vorgezogene Wahlen provozieren, um deren bemerkenswerte Popularität zu nutzen. Mit 36, 38, ja sogar 40 Prozent Stimmanteilen schienen die Umfragen die spektakuläre und wachsende Zustimmung zur Lega zu bestätigen: Bei den Europawahlen im vergangenen Mai erhielt sie mehr als 34 Prozent der Stimmen, doppelt so viele wie bei den Parlamentswahlen im März 2018. 

Salvini behauptete, die Rückkehr zu den Urnen sei der "Königsweg" der Demokratie, und im Interesse des Landes müsse man ihm eine "unbeschränkte Vollmacht" ausstellen, das heißt eine Mehrheit, durch die er nicht von widerspenstigen Partnern abhängig ist. 

Während der Debatte, die am 20. August im Senat in einer besonders angespannten Atmosphäre stattfand, kündigte Regierungschef Conte das Ende der Regierung an und machte damit den Misstrauensantrag, den die Lega vorlegen wollte, hinfällig. Conte war besonders hart zu dem Mann, der den Bruch eingeleitet hatte, und beschuldigte ihn unter anderem, Italien innerhalb der Europäischen Union zu schwächen. 

Ein Kurzstreckenlauf um eine alternative Koalition begann, um die von Salvini gewünschten Neuwahlen zu vermeiden. Es war der ehemalige Ratspräsident Matteo Renzi (der in seinem Land so unbeliebt bleibt wie Anthony Blair in seinem), der die unwahrscheinliche Annäherung zwischen seiner eigenen Formation, der Demokratischen Partei (PD, bekannt als die "Mitte-Links"), und der M5S initiierte. 

Nach der Billigung der neuen Koalition durch die M5S-Anhänger wurde diese offiziell am 29. August angekündigt – trotz der unzähligen Beleidigungen, die die beiden Parteien in den letzten Jahren ausgetauscht hatten ("gefährliche und unverantwortliche Populisten" einerseits, "korrupt und verdorben" andererseits). Diese Feindseligkeitspiegelte die vielfältigen Gegensätze zwischen einer Formation wider, die die "politische Kaste" symbolisiert, und einer ursprünglich als "Nicht-Partei" gegründeten Bewegung, die deren Schandtaten verurteilt. 

Mit dieser unnatürlichen Allianz wird die Popularität der M5S wahrscheinlich noch weiter abnehmen. Sie war bereits zwischen den Parlamentswahlen im März 2018 und den Europawahlen im Mai 2019 von 33 auf 17 Prozent gesunken. 

In der neuen Regierung stellen die beiden Koalitionspartner je zehn Minister. Aber die M5S dürfte angesichts der erfahrenen Politiker der DP noch weiter geschwächt werden. Ihr Vorsitzender, Luigi Di Maio, übernimmt das prestigeträchtige Außenministerium – das allerdings nicht zu den Prioritäten dieser Bewegung gehört –, erhält jedoch nicht den Titel des stellvertretenden Premierministers. Der parteilose Conte, ein Ökonom, der der M5S nahesteht, spielte in dem Kabinett, das er bisher geleitet hatte, eine relativ bescheidene Rolle. Nun hat er politische Autorität und Autonomie erlangt. 

Im Gegensatz zu den Kommentatoren, die sofort über "Salvinis Scheitern" spotteten, der "sich selbst in den Fuß geschossen" habe, könnte die Lega von ihrer neuen Position als quasi einzige Oppositionspartei profitieren. Zumal die vorrangige Aufgabe des neuen Kabinetts die Vorbereitung des Haushalts 2020 sein wird, der der Europäischen Kommission im Herbst vorgelegt werden und deren Regeln er entsprechen muss. In diesem Fall müssen zwischen 23 und 30 Milliarden aufgebracht werden (unter Berücksichtigung früherer Verhandlungen zwischen Rom und Brüssel), das bedeutet erhebliche Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und den Verzicht auf die ursprünglich versprochenen Steuersenkungen. Kurz gesagt: Die "Drecksarbeit" muss jetzt gemacht werden. 

Diese neue Regierung wird wohl auch mit der resoluten Politik der geschlossenen Häfen für Migranten brechen, auf der Salvini einen großen Teil seiner Aura aufgebaut hat. Letzterer wird somit in der Lage sein, die Dividenden einer solchen Situation einzustreichen, während er gleichzeitig die schmutzigen Manöver der anderen Parteien anprangert, die nur dazu dienten, Neuwahlen zu vermeiden. 

Zwar konnten M5S und PD ein gemeinsames Programm mit 26 Punkten präsentieren, darunter der "Kampf gegen Ungleichheiten", eine "europäische Lösung für das Migrationsproblem" oder Investitionen in Umwelt und erneuerbare Energien. Aber in Wirklichkeit gibt es viele entgegengesetzte Orientierungen zwischen den beiden politischen Kräften. Di Maio wird nicht müde zu wiederholen, dass die neue Regierung die Politik der alten fortsetzen werde, während der Vorsitzende der PD, Nicola Zingaretti, im Gegenteil erklärt, Bruch und Veränderung seien das neue Mandat der Exekutive. 

Abgesehen von den vorhersehbaren Streitigkeiten, haben die offenen Pro-EU-Kräfte die Kontrolle wiedererlangt. Der neue Wirtschaftsminister Roberto Gualtieri war Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Europaparlament und wird in Brüssel hochgeschätzt. Der Beauftragte für europäische Angelegenheiten, Enzo Amendola, ist ein entschiedener Befürworter der Integration. Bekannt ist vor allem der neue, von Rom ernannte EU-Kommissar: der ehemalige Regierungschef Paolo Gentiloni, den die Wähler im März 2018 aus dem Amt gejagt hatten. Alle drei stammen von der PD. 

Die Verhandlungen mit Brüssel zur Vorbereitung des Haushalts 2020 dürften daher leichter werden. Im Juni letzten Jahres (nach einem ersten Kräftemessen im Dezember 2018, bei dem Rom schließlich nachgab) hatte die Europäische Kommission erneut mit einem Sanktionsverfahren (offiziell wegen Überschuldung) gedroht, genau in dem Moment, als einige Ökonomen und der Lega nahestehende führende Politiker an der Einrichtung eines Mechanismus ("Mini-Bots") arbeiteten, der einen Ausstieg aus dem Euro ankündigte. 

Dank der Krise haben die Pro-EU-Truppen daher Zeit gewonnen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der erste Test steht bevor: Drei Regionalwahlen (Umbrien, Kalabrien und Emilia Romagna) sind für Oktober und November geplant.

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