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Wollte das Weiße Haus die Sowjetunion am Ende noch bewahren?

Wochen vor dem Zusammenbruch der UdSSR wünschte US-Präsident George Bush dem amtierenden Staatspräsidenten Michail Gorbatschow viel Glück bei der Rettung der Union vor dem Zerfall. Aber wollte man in Washington wirklich die UdSSR erhalten? Offengelegte Dokumente geben Aufschluss.
Wollte das Weiße Haus die Sowjetunion am Ende noch bewahren?Quelle: www.globallookpress.com © Igor Sinitsyn

Eine Analyse von Kit Klarenberg

Am 25. Dezember 1991 trat Michail Gorbatschow in einer Fernsehansprache als Präsident der Sowjetunion zurück, und er erklärte den Unionsstaat selbst für aufgelöst, sein Amt für abgeschafft und alle seine Befugnisse als an den Präsidenten Russlands Boris Jelzin übertragen. Nur wenige Minuten nach dem Abschluss seines wahrlich tektonischen Oratoriums wurde über dem Kreml am Roten Platz in Moskau zum letzten Mal die Flagge der Sowjetunion mit Hammer und Sichel eingeholt.

Aus Anlass des 30. Jahrestages dieses bedeutenden Ereignisses hat das US-amerikanische Nationale Sicherheits-Archiv eine Reihe von Abschriften und "noch nie zuvor übersetzten" Dokumenten veröffentlicht, die etwas Licht in die damalige Denkweise der USA in Bezug auf die Auflösung der Sowjetunion während dieses turbulenten Jahres bringen. Angesichts der Tatsache, dass Washington den gesamten Kalten Krieg damit verbracht hatte, die UdSSR zu destabilisieren, um ihr Ende zu beschleunigen, ist das etwas überraschend, weil diese Dokumente zeigen, dass man im Weißen Haus tatsächlich entschlossen war, die Union – zumindest in irgendeiner Form – zu erhalten und Gorbatschow noch das ganze Jahr 1991 hindurch dabei zu unterstützten.

Aus den Dokumenten geht hervor, dass dieser Wunsch im Weißen Haus teils von der Angst vor einem Ausbruch nationalistischer Gewalt getrieben war, der das Gemetzel, das zur gleichen Zeit Jugoslawien erfasst hatte, in den Schatten stellen würde, als dort die Teilstaaten der sozialistischen Republik um die Unabhängigkeit von Belgrad kämpften. Diese Aussicht war angesichts der Präsenz taktischer Atombomben in 14 der 15 Republiken der UdSSR umso ernster, waren doch von denen allein in Weißrussland, Kasachstan und der Ukraine über 3.000 stationiert. Im Dezember 1991 warnte der damalige Außenminister James Baker vor einem bevorstehenden Bürgerkrieg – ähnlich dem in Jugoslawien –, allerdings "mit ins Spiel geworfenen Atomwaffen".

Alarmstimmung über die Kontrolle sowjetischer Atomwaffen kam erstmals auf, als eine Gruppe kommunistischer Hardliner im August 1991 mit einem gewaltsamen Putsch versucht hatte, die Macht zu ergreifen. Sie isolierten Gorbatschow in seiner Residenz auf der Krim und gründeten das Staatliche Komitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR (GKTschP/ГКЧП: Государственный комитет по чрезвычайному положению в СССР). Zwar scheiterte dieser Versuch in nur drei Tagen, aber es war dennoch eine äußerst peinliche Episode, die Gorbatschows schwache Position offenbarte.

Am 5. September sandte der nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft ein warnendes Memo an den US-Präsidenten, in dem er die Notwendigkeit unterstrich, eine zentrale Unionsregierung zu erhalten und Jelzin – dessen Popularität und Einfluss nach dem gescheiterten Putsch dramatisch zugenommen hatte – zu einer konstruktiven Beziehung zum sowjetischen Staatspräsidenten zu bewegen.

Acht Tage später war Baker in Moskau, um an einer historischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teilzunehmen, und traf sich dabei mit dem hochrangigen sowjetischen Politiker Alexander Jakowlew. Er drückte seine Unterstützung für den Erhalt der Union aus, unterstrich jedoch die Notwendigkeit, "entschlossen" zu handeln und schnell politische und wirtschaftliche Abkommen mit den Führern der sowjetischen Teilrepubliken abzuschließen, um die Gründung einer Union Souveräner Staaten als Nachfolger der UdSSR zu erleichtern. Prophetisch prognostizierte er, wenn dies nicht innerhalb von "zwei oder drei Monaten" erreicht werde, würde dies den "irreversiblen Zerfall" der UdSSR bedeuten.

Am 11. Oktober wurde in Moskau eine Sitzung des Sowjetischen Staatsrates einberufen, dessen Protokoll darauf hindeutete, dass die Union Souveräner Staaten kurz vor der Gründung stand. Die versammelten Führer der Sowjetrepubliken diskutierten ausführlich über den Abschluss des kollektiven Gründungsvertrages und auch den Abschluss eines weitreichenden, liberalisierten Wirtschaftsabkommens zu dessen Untermauerung. Am Ende jedoch kam das Projekt nicht mehr zustande.

Bei einem gemeinsamen Abendessen mit Bush und König Juan Carlos von Spanien in Madrid am 29. Oktober beklagte der sowjetische Präsident das Scheitern des Vertrags und erklärte, dass er glaube, "er [Jelzin] ist in seiner Seele aufrichtig für die Union", aber andere "Menschen und Kräfte" in der UdSSR versuchten, "die ganze Zeit einen Keil" dazwischen zu treiben.

Als Reaktion darauf würdigte Bush vor Gorbatschow "die gigantische Aufgabe" und als "ein überwältigendes, atemberaubendes Drama", bei dem "wir den Atem anhalten, während wir zusehen, wie es sich entfaltet, und wir wünschen Ihnen viel Glück". Carlos ging sogar noch weiter und warnte, dass es ohne die Sowjetunion "keine wichtige Säule der Stabilität in Europa und in der Welt geben wird", womit "ein gefährliches Vakuum" hinterlassen würde.

So rief Jelzin am 8. Dezember im Weißen Haus an, um seinem US-Amtskollegen eine "außergewöhnliche" Entwicklung mitzuteilen – er hatte nur wenige Minuten zuvor zusammen mit den Führern von Weißrussland und der Ukraine ein gemeinsames Abkommen unterzeichnet, um sich damit entschieden und endgültig aus der UdSSR herauszulösen. Zur Auslegung der Bedingungen für eine Unabhängigkeit betonte er, dass Gorbatschow "diese Ergebnisse noch nicht kennt". Ein äußerst zurückhaltender – und zweifellos gedemütigter – Bush reagierte weitgehend einsilbig auf die erschütternden Enthüllungen des Russen.

Diese Dokumente regen zu einer enormen Zahl von "Was-wäre-wenn"-Szenarien darüber an, wie anders die folgenden drei Jahrzehnte verlaufen wären und wie der Zustand der westlichen Beziehungen zu Moskau heute aussehen würden, wenn Gorbatschows Bestrebungen in Erfüllung gegangen wären. Allerdings sind solche Spekulationen ziemlich irrelevant, denn die Einmischung der US-Geheimdienste in die sowjetische Sphäre vermittels der im Jahr 1983 gegründeten National Endowment for Democracy (Anm.: eine halbstaatliche außenpolitische Denkfabrik der USA; NED) machte den Zusammenbruch der UdSSR zur vollendeten Tatsache.

Bereits im September 1991 hatte die Washington Post eine neue Ära von "Staatsstreichen ohne Spione" und mit "offenen Operationen" bejubelt, bei denen eine Reihe von US-Regierungsinitiativen, wie die NED, "öffentlich das getan haben, was die CIA früher im Verborgenen tat". Die NED galt als die treibende Kraft in dieser umfassenden Operation, die "prodemokratische Gruppen mit Geld und moralischer Unterstützung ausstattet, Widerstandskämpfer ausbildet und daran arbeitet, die kommunistische Herrschaft zu untergraben".

Der Artikel dokumentierte ausführlich, wie die "offenen Agenten" der Organisation innerhalb der Sowjetunion aktiv und bis dato "immens erfolgreich" waren, beispielsweise bei der Finanzierung von Gewerkschaften, der liberalen "interregionalen Gruppe" im Kongress der Volksabgeordneten, einer Aktivisten-Stiftung und der ukrainische Unabhängigkeitsbewegung "Ruch" (Anm.: in Anlehnung an eine rechtsextreme Bewegung in Polen mit gleichem Namen), neben noch "vielen anderen Projekten". Die Kampagne von Ruch war entscheidend für die Abhaltung eines Referendums im Dezember desselben Jahres, bei dem 92,3 Prozent für den Austritt aus der UdSSR stimmten.

Im Mittelpunkt dieser destabilisierenden Bemühungen stand die "graue Eminenz" der NED, Allen Weinstein, den die Washington Post zum "Dekan der neuen offenen Agenten" ernannte und der sich im großen Stil an "globaler Einmischung" beteiligte. Seine Arbeit in der Sowjetunion reicht bis ins Jahr 1980 zurück, "als er sich mit sowjetischen Dissidenten zusammenschloss, um ein Bürgerkomitee zu organisieren, das die Menschenrechtsvereinbarungen von Helsinki überwachen" sollte. Umgehend verband er sich mit einem "Netzwerk prodemokratischer Aktivisten" in der Region und "bald sponserte er auch Konferenzen für Dissidenten, arrangierte Besuche für sie in den USA und machte auch sonst noch Ärger".

Erstaunlicherweise zeichnen die freigegebenen Dokumente nach, wie Jelzin und seine Mitarbeiter "in diese transatlantische Edelsuite" hineingezogen wurden und an mehreren von Weinstein arrangierten Konferenzen teilnahmen, "darunter eine über Umweltprobleme, die Anfang August in Moskau stattfand". Nur wenige Tage später starteten die Hardliner ihren unglückseligen Putsch, und so begann die Clique um Jelzin, "ihrem Freund Weinstein Faxnachrichten zukommen" zu lassen, ihm  über Panzer der Roten Armee zu berichten, die in der russischen Hauptstadt aufgefahren waren, und dass sie "versuchen, Unterstützung zu sammeln, für ihren Widerstand gegen den Putsch".

Diese Beziehung ermöglichte es Jelzin schließlich, Bush direkt zu kontaktieren – ein Telefonat, das die Washington Post als "das wohl sensibelste und heikelste in der Geschichte des Kalten Krieges" bezeichnete – und George Bush zu veranlassen, mit einer Fernsehansprache über diese Eruptionen an die Öffentlichkeit zu gehen. Der US-Präsident kritisierte den Putsch als "fehlgeleiteten und illegitimen Versuch" und fror die US-Hilfe für die Sowjetunion ein, bis dies später rückgängig gemacht wurde.

Man kann durchaus argumentieren, dass dies den Absichten der Verschwörer einen tödlichen Schlag versetzte und Jelzin, "den Kreml-Rebellen, der versuchte, das Sowjetimperium zu zerschlagen und die Kommunistische Partei zu zerstören", sehr ermutigte und seinen Aufstieg weiter begünstigte – und dass die daraus resultierende "irreversible Desintegration der UdSSR" so gut wie unvermeidlich wurde. Nur kann man sich auch fragen, ob George Bush eine Ahnung davon hatte, dass sein Eingreifen genau dies bewirken würde, was zuvor er und seine Regierung so befürchtet hatten und wogegen er so lange und entschlossen gekämpft hatte.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzung aus dem Englischen.

Kit Klarenberg ist ein investigativer Journalist, der die Rolle von Geheimdiensten bei der Gestaltung von Politik und Wahrnehmung untersucht. Folgen Sie ihm auf Twitter @KitKlarenberg

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