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Russische Raumfahrt vor neuen Aufgaben – vor militärischen wie wissenschaftlichen

Es erfolgte nicht einfach nur ein Wechsel auf dem Spitzenposten bei Roskosmos. Die russische Raumfahrt steht vor neuen Aufgaben, militärischen wie wissenschaftlichen. Und für Russland, das den ersten Raumflug in der Geschichte der Menschheit vollbrachte, ist der Weltraum seitdem ein Teil der nationalen Identität.
Russische Raumfahrt vor neuen Aufgaben – vor militärischen wie wissenschaftlichenQuelle: Sputnik © Grigory Sysoev

Eine Analyse von Michail Kotow

Dmitri Rogosin verbrachte etwas mehr als vier Jahre als Leiter von Roskosmos. Wenn wir heute zurückblicken, ist klar, dass ihm sehr viel gelungen ist. Als er 2018 die Leitung des staatlichen Unternehmens übernahm, war die Lage in der Branche nicht die beste. Es verging kaum ein Jahr ohne Fehlstarts, der Bau des Kosmodroms Wostotschny war von zahlreichen Skandalen begleitet, und die Fristen für den Bau wurden immer verschoben. Eines der größten Unternehmen der Roskosmos-Gruppe, das Staatliche Forschungs- und Produktionszentrum Chrunitschew, stand unter dem Druck millionenschwerer Schulden und am Rande eines scheinbar unvermeidlichen Konkurses.

In vier Jahren ist es gelungen, vieles voranzubringen oder abzuschließen. Im Jahr 2019, nachdem die deutsche Seite endlich bereit war, brachte Russland eines seiner erfolgreichsten wissenschaftlichen Projekte der letzten Zeit ins Weltall: das Röntgenobservatorium Spektr-RG. Im vergangenen Jahr wurde dieses Projekt mit dem Marcel-Grossmann-Preis (sozusagen dem "Oscar" der Astrophysik) für die Erstellung der bisher umfassendsten Karte des Universums im Röntgenbereich ausgezeichnet.

In nur drei Jahren ist es Dmitri Rogosin außerdem gelungen, das zu tun, was sein Vorgänger jahrelang nicht gewagt hat: In knapp anderthalb Jahren wurde für die Internationale Raumstation (ISS) das Mehrzweck-Labor-Modul "MLM Nauka" fertiggestellt und an Ort und Stelle in den Erdorbit befördert. Zuvor hatte dieses leidgeprüfte multifunktionale Labor-Modul seit 2008 für die ISS auf der Warteliste gestanden.

Tatsächlich verlief auch nach dem Start nicht alles reibungslos. Acht Tage lang waren die Spezialisten des Missionskontrollzentrums unter der Leitung von Rogosin im wahrsten Sinne des Wortes "auf der Hut", um das Modul zur Internationalen Raumstation zu bringen, wobei schwierigste ingenieurtechnische Aufgaben gelöst werden mussten. Ohne die Bereitschaft des Leiters von Roskosmos, dafür die Verantwortung zu übernehmen, wäre diese Aufgabe wohl niemals abgeschlossen worden. Das Ergebnis ist bekannt – "Nauka" hat sich zu einem der wichtigsten Module des russischen Segments auf der ISS entwickelt.

In Wostotschny begannen regelmäßige Starts von Sojus-2-Raketen – mit ein bis zwei Starts im Jahr 2016 und bis zu fünf Starts im Jahr 2021. Schrittweise wurde Ordnung in die Bauarbeiten auf dem Kosmodrom gebracht, diverse Strafverfahren wurden eingeleitet und das Problem der regulären Gehaltszahlungen an die Bauarbeiter wurde gelöst. Eine neue junge Mannschaft für das Kosmodrom wurde ausgebildet. Der Bau des Flughafens und der Gebäude in Ziolkowski, der Stadt, in der die Mitarbeiter von Wostotschny leben werden, hat begonnen.

Besonderes Augenmerk verdient Rogosins Wirken zum Thema Sicherheit und Produktionskultur. Die meisten Havarien in der russischen Raumfahrt ereigneten sich damals aufgrund von Nachlässigkeit bei der Konstruktion und Montage der Raumfahrttechnik. Allmählich wurde dieses Problem behoben und eine unfallfreie Serie von mehr als 80 Starts erreicht. Bei keinem einzigen dieser Starts gab es ein Problem mit der Trägerrakete, und nur bei einem Testversuch versagte eine neue Oberstufe, die sich noch in der Entwicklung befand.

Es wurden wieder Verträge für den Weltraumtourismus abgeschlossen, und so besuchten zwei japanische Gäste im Jahr 2021 die Internationale Raumstation. Roskosmos gewann einen der größten Aufträge in der Geschichte der Raumfahrt, für den Transport der OneWeb-Satelliten in den Erdorbit. Und dieser Vertrag wurde fast vollständig und ohne Fehlzündungen ausgeführt – bis er schließlich nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation im Frühjahr 2022 am 3. März vom OneWeb-Konsortium gekündigt wurde, was die letzten beiden Starts unmöglich machte.

Ungeachtet aller Kontroversen hat Roskosmos seinerseits dazu beigetragen, das gemeinsame Projekt "Wysow" [Anruf] mit dem TV-Sender Perwy Kanal zu realisieren, bei dem es um die Produktion des ersten Spielfilms auf der Internationalen Raumstation geht. So oder so, ganz Russland begann wieder, mehr über den Weltraum zu sprechen.

Auch unabhängig davon kann man sagen, dass Roskosmos den einfachen Bürgern nähergekommen ist. Laufend werden die Raketenstarts übertragen, selbst an den Trägerraketen sind Kameras installiert, um den Start noch eindrucksvoller zu zeigen, und die Weltraumspaziergänge und die Landungen auf der Erde werden auch übertragen. Somit wurden die technischen Abläufe zu spektakulären und interessanten Shows.

Es stimmt, Dmitri Rogosin konnte einiges nicht umsetzen, dafür reichte die Zeit nicht. Der Start der russischen Mondmission "Luna 25" hat noch nicht stattgefunden, und die Zusammenarbeit bezüglich der europäisch-russischen Mission "ExoMars" ist nun offenbar gescheitert. Doch es wurde mit der nachhaltigen Planung der eigenen, also russischen Orbitalstation ROSS begonnen, was noch andauert. Und auch das neue Projekt "Sfera" für eine zeitgemäße Serie von Satelliten zur Fernerkundung ist gesichert, die entsprechende Finanzierung ist zugesagt.

Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, einschließlich der Budgetkürzungen beim staatlichen Raumfahrtprogramm, kam es in dieser Zeit zu vielen positiven Veränderungen in der Raumfahrtindustrie. Die heutige Weltraumorganisation Roskosmos ist, auch angesichts der politischen Lage in der Welt, eine wesentlich stabilere Organisation als noch vor vier Jahren.

Man muss jedoch zugeben, dass sich auch die Weltlage jetzt weiter dramatisch verändert hat – und höchstwahrscheinlich wird sich Roskosmos anpassen müssen, um den Herausforderungen, denen sich Russland gegenübersieht, wirksamer begegnen zu können. Nun liegt es an Juri Borissow, dem neuen Chef der Raumfahrtbehörde, sich damit zu befassen. Worin aber bestehen diese Herausforderungen?

Erstens benötigen das Land und sein Verteidigungsministerium eine große Anzahl von Weltraumgeräten für Fernerkundung, Aufklärung und Zielerfassung. Benötigt werden Geräte, die sowohl im optischen Spektrum als auch im Radarbereich operieren. Es besteht ein Bedarf an effizienter und bequemer Satellitenkommunikation mit einem Breitband-Internetzugang von jedem Ort aus, in Russland und im Ausland.

Eigentlich liegt die Lösung für die meisten dieser Probleme in der Arbeit des Projekts "Sfera". Das Erfordernis derartiger Raumfahrzeuge wurde schon vor langer Zeit erkannt, aber die Spezialoperation zeigte die Dringlichkeit dieser Arbeit nur noch deutlicher.

Deshalb muss die russische Raumfahrt in erster Linie an Projekten der niedrigen Erdumlaufbahn arbeiten, sowohl für militärische als auch für Dual-Use-Zwecke. Die Raumfahrzeuge der "Sfera" werden nicht nur vom Militär, sondern auch von vielen zivilen Branchen benötigt.

Die zweite Herausforderung sind Probleme mit der Importsubstitution von Mikroelektronik-Komponenten für die Raumfahrt. Das Problem besteht dabei nicht in der Einfuhr dieser Komponenten aus dem Ausland. Ziel ist vielmehr die Vereinheitlichung der gesamten mikroelektronischen Nomenklatur und der schrittweise Übergang zu einer russischen Produktion. Diese Aufgabe ist zwar äußerst schwierig, aber ebenfalls lösbar.

Das dritte Problem betrifft die politische Situation in der Welt. In den letzten Monaten sind viele wissenschaftliche und technische Verbindungen einseitig abgebrochen worden, und alle möglichen internationalen Projekte wurden gestrichen. Nur die Internationale Raumstation ist noch in Betrieb, und das liegt vor allem daran, dass es einfach keinen Ersatz für sie gibt. Wie man in dieser Situation mit wissenschaftlichen Raumfahrtprojekten vorankommt, ist noch unklar.

In dieser Situation, in der man sich auf militärische und äußerst anwendungsorientierte Projekte im niedrigen Orbit fokussiert, ist es natürlich am schwierigsten, andere und nicht weniger wichtige Bereiche der russischen Weltraumnutzung – bemannte und wissenschaftliche Missionen – nicht zu vergessen. Zwar mag die Versuchung groß sein, nun etwa die gesamte Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit des staatlichen Unternehmens Roskosmos einzuschränken, zumal die Mittel begrenzt sind. Dies darf dennoch nicht geschehen, da es sonst enorme Anstrengungen und Mittel erfordert, solche scheinbar unbedeutenden Kompetenzen später wiederzuerlangen.

Der Weltraum ist für Russland weitaus mehr als nur Raketen und Raumfahrzeuge. Der Weltraum – das ist für Russland ein Teil des Lebens, ein Verbindungselement, ein Baustein der nationalen Kultur geworden. Und für Weiterentwicklungen in diesem Bereich muss alles getan werden.

Übersetzt aus dem Russischen

Michail Kotow ist ein Wissenschaftsjournalist mit dem Spezialgebiet Raumfahrt. Nach seinem Abschluss an der Universität für Wirtschaft und Finanzen in Sankt Petersburg im Jahr 2004 kam er 2012 zum Journalismus und schrieb zu Themen der modernen Technologie und der Militärtechnik. Ab 2016 spezialisierte er sich schließlich auf die Wissenschaft. Seine Artikel erschienen in Life.com, Populäre Mechanik, N+1, Esquire, Wsgljad, Profile und anderen Zeitschriften

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