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Wie ein Modell für die Weltordnung des 21. Jahrhunderts entsteht

Die von Russland und China gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit repräsentiert die Hälfte der Weltbevölkerung. Sie wird dazu beitragen, eine neue Weltordnung für das 21. Jahrhundert zu schmieden. Doch was kann diese Organisation ihren Mitgliedern tatsächlich bieten?
Wie ein Modell für die Weltordnung des 21. Jahrhunderts entstehtQuelle: www.globallookpress.com © China's Ministry of Foreign Affa/XinHua

Eine Analyse von Dmitri Trenin

Über 20 Jahre nachdem sie als Versuch einer Zusammenarbeit zwischen fünf von Russland geführten postsowjetischen Staaten und dem aufstrebenden China ins Leben gerufen wurde, hat sich die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zu einer wichtigen globalen Institution entwickelt, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung vertritt.

Vom 15. bis 16. September wird Samarkand, eines der alten Zentren der menschlichen Zivilisation, Gastgeber des jährlichen Gipfeltreffens der Gruppe sein. Zu den Prioritäten der diesjährigen usbekischen Präsidentschaft gehören die Stärkung der Fähigkeiten der SOZ zur Gewährleistung der regionalen Sicherheit und Stabilität, die Förderung von Freundschaft und guter Nachbarschaft, die Erhöhung der globalen Relevanz der Organisation, die Abwehr von Bedrohungen aus dem Bereich der Informationstechnologie und der extremistischen Ideologie, der Ausbau der Kontakte innerhalb der Parlamente der Partnerstaaten, die Belebung der wirtschaftlichen Interaktionen, die Verbesserung der gegenseitigen Verflechtung, die Intensivierung kultureller und humanitärer Kontakte sowie die Steigerung der allgemeinen Effektivität der Gruppe und ihrer Mechanismen.

Das hört sich alles beeindruckend an, ist aber im Grunde ziemlich seicht, und die beim Gipfel formell zu genehmigenden Beschlüsse versprechen keine großen Sensationen – abgesehen von der lang erwarteten Aufnahme Irans als neunten Mitgliedsstaat der SOZ.

Doch das Umfeld, in dem der diesjährige Gipfel in Samarkand stattfindet, unterscheidet sich stark vom Treffen in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe im vergangenen Jahr. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat sich zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Washington entwickelt und inzwischen haben die ohnehin schon konfrontativen Beziehungen zwischen China und den USA, insbesondere durch den jüngsten Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses in Taiwan, Nancy Pelosi, spürbar an Spannung zugenommen. Das im vergangenen Juni in Madrid angenommene neue strategische Konzept der NATO beschreibt Russland als die bedeutendste und direkteste Bedrohung; China, das es zum ersten Mal erwähnt, wird darin als eine Herausforderung für die Interessen des Westens, seiner Sicherheit und Werte bezeichnet.

Infolgedessen ist die internationale Gemeinschaft, in einer sich verschärfenden Rivalität um die Weltordnung, einer Spaltung in zwei Lager im Stile des Kalten Krieges sichtbar näher gekommen.

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die SOZ eine nicht-westliche Version der NATO wird. Während die von den USA geführte Militärallianz jetzt vereinter denn je in ihrem Bestreben ist, die herrschende Weltordnung zu bewahren, die in der Blütezeit der globalen transatlantischen Dominanz aufgebaut und entwickelt wurde, zeigen nicht-westliche Nationen nichts Vergleichbares zu dieser Art von Einheit, Hierarchie und interner Disziplin.

Russland und China verfolgen, obwohl sie beide der globalen Hegemonie der USA entgegentreten, sehr unterschiedliche Strategien und sind, trotz ihrer öffentlichen Erklärungen einer Zusammenarbeit, "die keine Grenzen kennt", und einer Partnerschaft, "die mehr als nur ein Bündnis" ist, sehr darauf bedacht, ihre anderen wichtigen Beziehungen nicht zu beschädigen, zum Beispiel jene zwischen China und den USA und der EU oder jene zwischen Russland und Indien, da diese Länder jeweils miteinander kooperieren. Darüber hinaus betrachten sich China und Indien, ganz zu schweigen von Pakistan und Indien, obwohl alles Mitglieder der SOZ, sich gegenseitig als große Sicherheitsbedrohungen.

Trotz dieser Vielfalt und Komplexität ist die SOZ in ihrem dritten Jahrzehnt nicht nur immer noch im Geschäft, sondern wird stetig aktiver und für andere Länder attraktiver. 2001 begann man mit sechs Mitgliedern, nach 2017 wurde die Mitgliedschaft auf acht erweitert, wobei etwa 20 weitere Länder entweder als Beobachter, Dialogpartner oder sich im Beitrittsprozess befindend aufgeführt wurden. Der Beitritt Irans in diesem Jahr weckte das Interesse der Türkei und einer Reihe arabischer Länder, insbesondere das Interesse der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens, Ägyptens und Katars.

Die Gemeinschaft der SOZ könnte potenziell einen Großteil des eurasischen Kontinents zwischen Weißrussland und Kambodscha umspannen. Eine solche Erweiterung birgt offensichtliche Risiken in Form einer noch größeren Interessenvielfalt, von Konflikten und Spannungen zwischen den Mitgliedern. Doch das Beispiel von China und Russland, Indien und Pakistan, die einen Nutzen für ihre Interessen in der SOZ finden, ist ein überzeugendes Argument für einen Beitritt.

Tatsächlich kennt die SOZ nicht das Konzept einer einzelnen Nation, die innerhalb der Organisation die Führungsposition einnimmt. Ihre auf Konsens basierenden Verfahren zur Entscheidungsfindung, ihre Betonung der nationalen Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten ist ein willkommener Kontrast zur US-dominierten NATO oder ähnlich gepolten Organisationen wie den G7. Mitglied in der SOZ zu sein bedeutet nicht, Anweisungen von Peking oder Moskau entgegenzunehmen. So weit, so gut. 

Doch was kann die SOZ ihren Mitgliedern, Beobachtern und Partnern tatsächlich bieten? Die allgemeine Antwort lautet: Sicherheit in ihren gegenseitigen Beziehungen und Stabilität auf dem gesamten eurasischen Kontinent.

Schließlich ist die Organisation aus Konflikten über Grenzfragen und militärische Bedrohungen zwischen China und Russland einerseits und den zentralasiatischen Staaten andererseits hervorgegangen.

Die Mitgliedschaft selbst garantiert nicht, dass es keine Konflikte geben wird, aber sie bietet Mittel, um diese zu verhindern oder zu bewältigen. Damit bietet die SOZ eine einzigartige Plattform für regelmäßige hochrangige und hochkarätige Kontakte zwischen Delhi und Peking. Die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung ist – trotz aller Unterschiede bei der Definition von "Terrorismus" – ein weiterer offensichtlicher Bonus. Nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan im vergangenen Jahr haben die Mitgliedsstaaten der SOZ ihre Bemühungen zur Stärkung der Stabilität in der Region intensiviert.

Die wirtschaftliche Entwicklung ist seit langem einer der Schlüsselbereiche der Zusammenarbeit bei der SOZ. Auf Chinas Initiative der "Neuen Seidenstrasse" (Belt and Road-Initiative) folgte der Nord-Süd-Korridor, der Russland, Iran, die arabischen Länder und Indien miteinander verbindet. Der Frieden im Südkaukasus könnte durch eine Wiederherstellung der Verflechtung innerhalb dieser Region und ihrer Verbindungen nach Norden und Süden gefestigt werden.

Die Auflösung von "Chimerica" – die Symbiose der Volkswirtschaften der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten von Amerika – und die Abkopplung der wirtschaftlichen Beziehungen der EU mit Russland nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, signalisieren die Ablösung der Globalisierung zugunsten einer Fokussierung auf Regionen. Asiatische und eurasische Länder, die in den letzten Jahrhunderten wesentlich engere Beziehungen mit entfernten westlichen Mächten pflegten als mit ihren direkten Nachbarn, konzentrieren sich jetzt auf die Möglichkeiten der Beziehungen in ihrer dynamischen Nachbarschaft. Die gegen Russland verhängten westlichen Wirtschaftssanktionen öffnen zudem zusätzliche Türen zu Russland für Investitionen und den Handel aus Asien und dem Nahen Osten.

Der Ausbruch der kriegerischen Handlungen zwischen Russland und der Ukraine brachte einen neuen Impuls innerhalb der eurasischen Interaktion, nachdem der Westen als Sanktion gegen Russland rund die Hälfte der russischen Währungsreserven beschlagnahmt hatte. Die zentrale Frage, die daraufhin in das strategische Kalkül vieler Länder einfloss, ist jene der Zuverlässigkeit des auf dem US-Dollar basierenden globalen Finanzsystems. 

Im Handel zwischen diesen Ländern werden zunehmend die nationalen Währungen der Mitgliedsstaaten der SOZ und ihrer Beobachter verwendet, wie der chinesische Yuan, die indische Rupie, die türkische Lira, der iranische Rial sowie der russische Rubel. Parallel dazu werden die nationalen Zahlungssysteme dieser Länder miteinander vernetzt, was ihnen ermöglicht, Transaktionen direkt anstatt über Washington oder seine Verbündeten abzuwickeln. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Mechanismen noch schwerfällig, sie bergen aber den Beginn eines neuen internationalen Finanzsystems, das frei vom Diktat einer hegemonialen Außenmacht ist.

Das internationale System, wie es nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden ist, befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch lange andauern wird. Das gegenwärtige System basiert auf Organisationen, die entweder im Kalten Krieg verwurzelt oder davon inspiriert sind, wie die NATO oder neu die AUKUS, oder stark von westlichen Mächten dominiert werden, wie die internationalen Finanzinstitutionen, die OSZE und das System der UN als Ganzes. Es ist zweifelhaft, ob die Hauptnutznießer der bestehenden Situation mehr tun werden als ein wenig nachzugeben, um Platz für aufstrebende globale Akteure zu schaffen, aber sie werden sicherlich ihr Bestes tun, um die Kontrolle über das von ihnen entwickelte und betriebene System zu behalten.

Während die Zukunft der Weltordnung im laufenden Wettbewerb zwischen den Großmächten entschieden wird, besteht ein praktischer Weg, die Situation so zu ändern, um den Interessen der wachsenden Zahl autonomer Akteure besser zu dienen, darin, Organisationen wie die SOZ zu entwickeln – unabhängig, nicht hegemonial und inklusiv. Potenziell könnte die SOZ ein Modell für die Weltordnung des 21. Jahrhunderts in einer der bedeutendsten Regionen der Welt werden.

Übersetzung aus dem Englischen.

Dmitri Trenin ist Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands und war Direktor des Carnegie-Instituts in Moskau.

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