Meinung

Ukraine, Deutschland und die EU: Der Sachstand

Es läuft nicht rund in der Ukraine. Kiew droht den militärischen, die EU den wirtschaftlichen Teil des Krieges zu verlieren. An der medialen Heimatfront bröckelt das Narrativ. Doch die deutsche Politik bleibt weiter auf Kriegskurs. Von Diplomatie keine Spur.
Ukraine, Deutschland und die EU: Der SachstandQuelle: Gettyimages.ru © wenjin chen

von Gert Ewen Ungar

Es läuft nicht gut für den Westen in der Ukraine. Der deutsche Medienkonsument merkt das vor allem daran, dass die Nachrichten von den Kämpfen in der Ukraine weniger werden und in den Hintergrund rücken. Das Thema Wirtschaftskrieg ist stärker im Fokus. Der militärische Teil scheint sich seinem Ende zuzuneigen. Im Internet kursieren immer mehr Dokumente einer völlig demoralisierten, sich in Auflösung befindlichen ukrainischen Armee. Schlecht ausgerüstet und ausgebildet, verweigern immer mehr Einheiten den Dienst. In der vergangenen Woche verdeutlichte ein Vorschlag einer Abgeordneten des ukrainischen Parlaments der Selenskij-Partei "Diener des Volkes", wie brisant die Lage sein muss. Sie schlug vor, Soldaten, die die Waffen niederlegen wollen, vor Ort zu erschießen. Dieser Vorschlag wurde zwar nicht angenommen, aber er verdeutlicht, wie verzweifelt man in Kiew offenbar ist.

Angesichts der Bilder schlecht ausgerüsteter ukrainischer Soldaten stellt sich zudem die Frage, was mit all den Waffen passiert ist, welche der Westen geliefert hat. Wurden die auf dem Hinweg vom russischen Militär zerstört? Wurden die auf die Schwarzmärkte umgeleitet und zu Geld gemacht, das in die Kassen ukrainischer Politiker und Oligarchen floss? Die zweite Erklärung wäre keine gute Nachricht für die Sicherheit in Europa.

Dass es sich bei den Berichten über die schlechte Ausrüstung und Versorgung nicht um russische Propaganda handelt, belegt ein Beitrag in der Washington Post. Ausländische Kombattanten beschweren sich ebenfalls über den umfassenden Mangel und wollen nach Hause. Was ist eigentlich mit all den Unsummen passiert, die in die Ukraine geflossen sind? 40 Milliarden Dollar haben allein die USA bereitgestellt. Ein enormer Betrag. Zum Vergleich: Der gesamte Wehretat Russlands beträgt 69 Milliarden Dollar. Was ist mit all dem Geld passiert?

Während westliche Medien die russische Operation in der Ukraine schon mehrfach für gescheitert erklärt haben, wird nun auf der faktischen Ebene mit den zunehmenden Erfolgen der russischen Armee das Ziel immer klarer: Die Ukraine wird ein Binnenstaat ohne Zugang zum Meer. Der Süden und der Osten der Ukraine werden aller Voraussicht Teil der Russischen Föderation. Man wird da im Westen jammern und mit den Zähnen knirschen, aber das ist die Antwort Russlands auf die Weigerung der Ukraine und der westlichen Garantiemächte Deutschland und Frankreich, Minsk 2 umzusetzen.

Obwohl der militärische Teil sich seinem Ende nähert, wird der Wirtschafts- und Sanktionskrieg weitergehen. Aber auch hier zeigen sich inzwischen Auflösungserscheinungen. Die Argumentationen schlagen bizarre Volten. Aus dem in einem weiteren Sanktionspaket von der EU angekündigten Öl-Embargo wurde ein Embargochen. Ungarn, das auf Lieferungen per Pipeline angewiesen ist, hat sich durchgesetzt. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck erklärte, Deutschland wolle trotzdem auf das Pipeline-Öl verzichten. Er schickt die Arbeiter der Raffinerie in Schwedt in die Arbeitslosigkeit. In einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender MSNBC argumentiert EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass es besser ist, wenn die EU von Russland weiterhin Öl kauft, denn wenn sie es nicht täte, würde Wladimir Putin das russische Öl auf die Rohstoffmärkte bringen und einen höheren Preis erzielen. Mit der Verhinderung dieser Gewinnmaximierung würde die EU Putin schaden.

Diese Argumentation liegt in unmittelbarer Nähe pathologischen Irrsinns. Sie zeigt, dass sich die EU noch nicht einmal eine Rhetorik bereitgelegt hat, die es ihr ermöglicht, halbwegs gesichtswahrend den Rückzug anzutreten. Im Gegenteil. Während die Russland-Sanktionen die ganze Abhängigkeit der EU von Russland offenbaren, fordern Politiker der EU und Deutschlands nicht nur weitere Sanktionspakete gegen Russland, sondern gleich auch noch gegen China. Der Grund ist wie immer moralische Hybris. Die Uiguren und ihre angebliche Verfolgung durch chinesische Behörden müssen wieder mal als Begründung für den wirtschaftlichen Selbstmord der EU herhalten. Dass die EU irgendwelche Werte konsequent vertritt, nimmt uns auf der Welt angesichts der doppelten Standards, mit denen die EU misst, ohnehin niemand mehr ab.

Von Annalena Baerbocks "Das wird Russland ruinieren" ist wenig, von Habecks "Das kostet uns Wohlstand" ist jedoch ganz viel zu spüren. Die Sanktionen haben zu steigender Inflation geführt. Die Preise für Lebensmittel und Energie klettern in die Höhe. Die Reallöhne sind in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um knapp zwei Prozent gesunken. Deutschland befindet sich in Geiselhaft antirussischer Ideologie. Der Bundeskanzler macht mit und ruft der Welt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos entgegen, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf. Warum eigentlich nicht?

Russland setzt jetzt lediglich allein und mit militärischen Mitteln das um, was gemeinsam mit den europäischen Partnern nicht umzusetzen gelang: Frieden für den Donbass und eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa, die auch russischen Interessen Rechnung trägt. Was die EU angeht, werden die russische Interessen spätestens seit 2014, was die NATO angeht, spätestens seit 2008 einfach ignoriert. Jeder, der diese Entwicklung gesehen hat, hat davor gewarnt. Es hat alles nichts geholfen. Die EU und auch Deutschland als Garantiemacht für Minsk 2 haben die aktuelle Situation munter herbeieskaliert.

Selbst der russlandfreundlicher Umtriebe völlig unverdächtige ehemalige Außenminister der USA Henry Kissinger hat früh, nämlich schon 2008 und dann noch einmal 2014, auf die Konsequenzen der Entwicklung hingewiesen. Kissinger forderte nun vor wenigen Tagen von der Ukraine, auf Gebietsansprüche gegenüber Russland zu verzichten. Wer meint, Kissinger hätte sich auf seine alten Tage zum Friedenstäubchen gewandelt, täuscht sich. Es geht auch bei dieser Forderung einfach um US-Interessen, denn die aktuelle Entwicklung bindet Russland und China stärker aneinander. Es entsteht so ein enormes wirtschaftspolitisches Machtzentrum. Das ist absolut nicht im Interesse der USA. Russland soll in Europa eingebunden bleiben und am langen diplomatischen Arm in seinem Anspruch auf Anerkennung seiner Interessen hingehalten werden.

Dafür ist es allerdings wohl zu spät. Russland führt immer häufiger und immer deutlicher aus, dass man auf eine Zusammenarbeit mit der EU nicht mehr zählt. Russland ist bitter enttäuscht. Das wird aber weder in der EU und schon gar nicht in Deutschland irgendeinen Reflexionsprozess einleiten. Im Gegenteil wird es lediglich Abwehrreflexe in der Art auslösen, dass Russland die alleinige Schuld am Scheitern der Beziehung gegeben wird. Die politische Analyse bewegt sich in Deutschland nicht erst seit dem 24. Februar dieses Jahres auf Kindergartenniveau.

Die Rückwirkungen der Sanktionen sind enorm. Die Deutschen bezahlen einen hohen Preis für rein ideologisch motivierte Wirtschaftssanktionen, die dazu führen werden, dass Deutschland verarmt und in seiner Bedeutung als Wirtschaftsstandort weiter absinkt. Sollten sich die russophoben Hardliner durchsetzen und tatsächlich ein Gas-Embargo gegen Russland verhängt werden, wie das beispielsweise der wirtschaftspolitisch naive Spiegel-Journalist Christian Neef immer wieder anmahnt, dann setzte Deutschland in Eigenregie schließlich doch noch den Morgenthau-Plan um.

Das Land würde seine Wirtschaft im Kern derart schädigen, dass es seinen Charakter als Industriestandort verlieren würde. Dennoch erfreut sich die Idee eines Gas-Embargos in den deutschen Gazetten weiterhin großer Beliebtheit. Es wird eifrig herbeigeschrieben. Doch während der einstige US-Finanzminister Henry Morgenthau genau wusste, welches Ziel er verfolgte, sind sich die Schreiberlinge des deutschen Mainstreams über die Konsequenzen ihrer Forderung offenbar völlig im Unklaren.

Demgegenüber ist sich Russland darüber im Klaren, dass die Sanktionen auch nach Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine nicht gelockert werden. Die EU hat kein Ausstiegsszenario. Sie hat auch keine Idee für eine Zeit nach dem Krieg. Die EU will nur eines: Russland muss verlieren. Russland muss vernichtet werden. Ein Plan B existiert nicht.

Russland reagiert auf die unverhohlene Aggression entsprechend und versucht über Parallelimport und Entwicklung einer immer weitergehenden Unabhängigkeit, den Einbruch der Wirtschaft abzufedern. Ziel aller wirtschaftspolitischen Bemühungen ist die Unabhängigkeit vom Westen. Durch staatliche Finanzprogramme hat Russland eine Art Gründerzeitfieber ausgelöst.

Darüber erfährt man in Deutschland natürlich nichts, denn auch der Informationskrieg ist noch in vollem Gange. Aber auch hier zeigen sich erste Risse. Die Zeugnisse schwerster Kriegsverbrechen durch die ukrainische Armee und insbesondere der faschistischen Bataillone werden immer zahlreicher. Mit jeder befreiten Ortschaft werden sie mehr. Noch werden sie medial verschwiegen, aber ewig wird sich diese Desinformationsstrategie nicht durchhalten lassen. Die wichtigste Quelle der deutschen Medien, Präsident Wladimir Selenskij und sein Stab werden immer unglaubwürdiger. Vor Kurzem verkündete sein Außenminister die Rückeroberung des Donbass und der Krim bis Ende des Jahres. Die deutschen Qualitätsmedien haben es munter nachgeplappert. Daraus wird nichts. Das ist inzwischen auch der letzten Faktencheckerin der Öffentlich-Rechtlichen hoffentlich klar. Auch der Informationskrieg geht daher so langsam verloren.

Die Deutschen werden sich nach und nach den Fakten stellen müssen: dem offenen Rassismus in der Ukraine, den Forschungen an Biowaffen, an denen anscheinend auch Deutschland beteiligt war. Sie werden die militärstrategisch völlig sinnlose Bombardierung von Zivilisten im Donbass durch die ukrainische Armee zur Kenntnis nehmen müssen, deren Ziel nur Zerstörung und Tod aus blanker Wut ist. Sie werden sich die Förderung und Unterstützung eines offen repressiven, totalitären Staates eingestehen müssen. Vor allem aber werden sie der Frage nachgehen müssen, warum man die Umsetzung von Minsk 2 nicht verfolgt hat. Und sie werden sich die Frage gefallen lassen müssen, was sie da angerichtet haben mit ihrer blinden Unterstützung der Ukraine aus purem Russenhass.

Vielleicht lernt Deutschland dieses Mal, dass "Nie wieder" auch tatsächlich nie wieder bedeuten muss. Und vielleicht lernt Deutschland dieses Mal, dass es ein gemeinsames, friedliches Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent nur dann gibt, wenn die Interessen aller Länder berücksichtigt werden, indem man sie diplomatisch ausbalanciert. Das mag zäh und mühsam sein, aber es ist immer noch besser, als diesen Kontinent alle paar Dekaden wahlweise militärisch oder wirtschaftlich in Schutt und Asche zu legen.

Mehr zum Thema - Die Wahrheit über die Ukraine und die Frage: Was schulden wir ihr überhaupt?

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.