Meinung

"Inmitten der Pest" – Die Streichung russischer Literatur aus ukrainischen Lehrplänen

In der Ukraine spricht immer noch mindestens die Hälfte der Bevölkerung im Alltag russisch. Dennoch sollen bedeutende russische Schriftsteller aus den Lehrplänen für ausländische Literatur gestrichen werden – auch solche Klassiker wie Puschkin, Lermontow und Dostojewski.
"Inmitten der Pest" – Die Streichung russischer Literatur aus ukrainischen LehrplänenQuelle: www.globallookpress.com © http://imagebroker.com/olf

von Zachar Prilepin

Inmitten der Pest

Es hat sich erfüllt, Alexander Sergejewitsch.

Es ist wahr geworden, Nikolai Wassiljewitsch.

Wir sind angekommen, Fjodor Michailowitsch.

Sämtliche Werke russischer und sowjetischer Autoren werden in der Ukraine aus dem Lehrplan gestrichen.

Eine Arbeitsgruppe des ukrainischen Bildungsministeriums hat diese Entscheidung getroffen.

Die Aufgabe besteht in der Erneuerung des Inhalts von Lehrplänen für ausländische Literatur.

Ausländisch, genau.

Dies geschieht in einem Land, in dem mindestens die Hälfte der Bevölkerung immer noch russischsprachig ist. Wo sich mindestens ein Drittel der Bevölkerung als russisch bezeichnet. Wo drei Viertel der Bevölkerung in den sowjetischen Schulen russische Literatur als ihre eigene und nicht als ausländische Literatur behandelte. Sie wurden von ihr erzogen und genährt.

Konkret gesagt: Es werden alle Werke von Puschkin, Lermontow und Dostojewski aus dem Lehrplan gestrichen.

Ihre Rolle ist völlig klar: Alle drei sind Imperialisten. Puschkin stellte Mazepa als Judas dar. Lermontov war eigentlich ein Soldat, und zwar mit Auszeichnung. Zu Dostojewski finden sich keine Worte - seine Tagebücher sind schlimmer als Prochanows Leitartikel.

Leo Tolstoi, Turgenew und Nekrassow wurden ebenfalls zurückgezogen. Sie sind russische Adlige. Bei denen ist alles klar, zumal Tolstoi auch gekämpft hat: erst im Kaukasus und später - im Gefecht um die Krim - gegen die britischen und französischen Partner der Ukraine und somit ihre Waffenlieferanten.

Sämtliche Werke von Michail Afanassjewitsch Bulgakow sind aus dem Verkehr gezogen worden. Ebenso alle Werke von Wladimir Galaktionowitsch Korolenko. Und die Kurzgeschichten von Tschechow. Von der Liste der Zusatzliteratur wurden die "Zwölf Stühle" von Ilya Ilf und Jewgeni Petrow gestrichen.

Und hier überkommt uns eine besondere Dissonanz.

Es ist nämlich so, dass Bulgakow in der Ukraine geboren wurde! In Kiew! Korolenko wurde in der Ukraine geboren! In Schitomir! Jewgeni Petrow wurde in Odessa geboren! Seine Mutter war Jewgenia Batschej, eine Adlige aus Poltawa. Ilya Ilf wurde ebenfalls in Odessa geboren. Und schließlich Tschechow: Er wurde in Taganrog geboren, das nach Überzeugung der Ukrainer ukrainisch ist.

Wie bitte?! Wie können sie plötzlich "ausländische" Schriftsteller sein, wenn sie in der Ukraine geboren wurden? Wenn sie das Land bereichert haben? Sie sind doch Einheimische! Wer hat es gewagt, sie zu Ausländern zu machen?

Scholochow ist auch nicht mehr im Programm. Wobei seine Mutter aus der Nähe von Tschernigow stammt – Anastasia Tschornjak, eine Ukrainerin. Er hat eine ganze Galerie ukrainischer Helden in seinen Romanen. Wie oft hat man in der Ukraine schon bewiesen, dass Scholochow einer von ihnen ist. Nun brauchen sie ihn nicht mehr.

Doch es geht noch weiter.

In der Ukraine will man nicht mehr, dass die Kinder Gribojedows "Verstand schafft Leiden" lesen. Somit droht ihnen auch kein Leid des Verstandes mehr.

Krylows Fabeln wurden gestrichen, die Gedichte von Jessenin (er übersetzte Schewtschenko und schrieb das Gedicht Guljaj-Pole) wurden zurückgezogen, Gedichte von Nikolai Gumiljow, Marina Zwetajewa und Arseni Tarkowski wurden aussortiert.

Leiten Sie diese Nachricht an Joseph Brodsky weiter. Er wird den zweiten Teil der "Ode an die Abspaltung der Ukraine" schreiben.

Auch Aleksander Beljajews Roman "Der Amphibienmensch" ist weg.

Die gesamte Prosa und Poesie, die dem Großen Vaterländischen Krieg gewidmet ist, geriet unter heftigen Beschuss: Es gibt keinen Nationalsozialismus in der Ukraine, aber allein schon die Literatur über die Triumphe der Roten Armee bringt das Fass zum Überlaufen.

Man hätte den Verzicht auf Konstantin Simonov verzeihen können (und das hat man auch getan). Doch man hat sogar Okudschawa abgeschafft, obwohl er am Ende seines Lebens ein absoluter Liberaler war, der den Zusammenbruch der UdSSR begrüßte und Bassajew zujubelte.

Sie entfernten Kusnezows "Babij Jar", Boris Wassiljews "Im Morgengrauen ist es noch still" sowie Wassil Bykaus "Alpenballade".

Aber nicht einmal das soll euch überraschen.

Der gesamte Bereich der Heldensagen wurde aussortiert! Unter anderem "Ilja Muromez und der Räuber Nachtigall". Denn es ist sehr mühsam, den Kindern zu erklären, es seien keine russischen Sagen, sondern ruthenische, also ukrainische. Und dass sich Murom, aus dem Ilja Muromez stammt, nicht auf die russische Stadt Murom beziehe, sondern auf ein kleines Örtchen, das in der Nähe von Kiew lag.

Kinder – sie können jeden Unfug glauben, aber hier fällt es selbst ihnen schwer, damit zu leben. Deshalb ist es auch einfacher, alle Heldensagen wegzuschmeißen und sie wie einen Albtraum zu vergessen.

Wodurch werden die beschlagnahmten Werke ersetzt? Hört weiter.

Anstelle von Puschkin wird die siebte Klasse Heine und Mickiewicz durchnehmen. Denn der eine ist Deutscher, der andere Pole. Und das sind europäische Nationen.

Anstelle des Buches "Weißer Bim, Schwarzes Ohr" von Gawriil Trojepolski wird den Kindern "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" vorgeschlagen.

Lasst uns hier einen Moment innehalten und das Offensichtliche feststellen.

Die russische Literatur gehört zu den vier bedeutendsten der modernen Weltliteratur. Gemeinsam mit der französischen, anglo-amerikanischen und deutschen Literatur.

Werke wie "Anna Karenina" und "Die Brüder Karamasow" gehören zu den Grundpfeilern einer aufgeklärten Menschheit. Ebenso die Theaterstücke von Tschechow und die Romane von Bulgakow.

Allerdings wurde in der Ukraine selbst "Der Meister und Margarita" durch Albert Camus' "Die Pest" ersetzt.

Eine besonders lustige Tatsache ist die Absetzung von Nikolai Wassiljewitsch Gogols "Der Generalinspekteur".

Erstens: Es geht um Russland.

Zweitens: Chlestakow ähnelt Selenskij zu sehr.

Übrigens ist Chlestakow eine gutherzige Kreatur.

Wir aber sehen einen anderen Chlestakow vor uns, dem jedes erdenkliche und unvorstellbare Übel entspringt – wie in einer anderen Geschichte von Gogol.

Nehmt auch das schnellstmöglich von der Liste, sonst fliegt ihr auf.

Lebt glücklich mit Mickiewicz mitten in der Pest.

Bis zum Morgengrauen.

Übersetzt aus dem Russischen

Mehr zum Thema – Ukrainische Stadt Nikolajew verbannt russische Sprache aus Schulen

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