Meinung

"Brüssel gegen Brüssel": Heißer Herbst in Belgien gegen EU-Vorgaben und Russlandsanktionen

Seit dem Spätsommer kommt es in Belgien zu Protesten und landesweiten Streiks – gegen die Kostensteigerungen, Energiepreise und antirussische EU-Politik. Entsprechend Gegenwind bekommt die belgische Regierung nun auch von der EU-Kommission, die sich in die belgische Innenpolitik einmischt.
"Brüssel gegen Brüssel": Heißer Herbst in Belgien gegen EU-Vorgaben und RusslandsanktionenQuelle: www.globallookpress.com © Global Look Press/Keystone Press Agency

Von Pierre Lévy

Gibt es einen belgischen Sonderfall? Am 9. November kam es in Belgien zu einer breiten sozialen Bewegung. Zahlreiche Sektoren wurden durch einen großen Streik lahmgelegt. Die Beschäftigten im Transportwesen, im öffentlichen Dienst, aber auch in vielen Industriezweigen mobilisierten sich in großer Zahl, insbesondere in Wallonien, wo die gewerkschaftlichen Traditionen stärker verankert sind.

Es war natürlich die Inflation und insbesondere der Anstieg der Energiepreise, die den Zorn hervorgerufen hatten: um 50 Prozent gestiegene Stromrechnungen, Abschlagszahlungen auf Gasrechnungen von +300 Prozent in diesem Jahr ... Die Energierechnung hatte sich für einige Haushalte sogar um das Fünf- oder Sechsfache erhöht.

Angesichts dessen hatte die Regierung zwar auf ihre Maßnahmen hingewiesen, insbesondere einen "Sozialtarif" für die Ärmsten sowie eine Haushaltszulage von 1.000 Euro für diesen Winter – 135 Euro pro Monat von November bis März für Gas, 61 Euro für Strom. Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie auf 6 Prozent war ebenfalls vorgenommen worden. Das ist jedoch weit davon entfernt, den Kaufkraftverlust auszugleichen, der durch die Energiekosten entstanden ist.

Der Streik vom 9. November war kein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Bereits am 21. September hatte sich eine Mobilisierung in Demonstrationen niedergeschlagen, deren Ausmaß selbst die Gewerkschaftsführungen überraschte, die mit einigen Tausend Aktivisten gerechnet hatten. Letztendlich waren es 20.000 Demonstranten, die in Brüssel auf die Straße gingen.

Ursprünglich war der September-Meilenstein Teil eines im Juni gestarteten gewerkschaftlichen Aktionsplans, dessen zentrales Ziel es war, ein Gesetz aus dem Jahr 1996 zu bekämpfen, das eine Begrenzung für ausgehandelte Lohnerhöhungen festsetzt. Dieses Gesetz wurde 2017 verschärft, indem die vom Zentralen Wirtschaftsrat (einer staatlichen Einrichtung) herausgegebenen Leitlinien verbindlich gemacht wurden und somit ein Verbot von Lohnerhöhungen über eine bestimmte Obergrenze hinaus eingeführt wurde. Dieses Zwangssystem war auf Druck der Arbeitgeber eingeführt worden, die die geografische Lage Belgiens zwischen drei wichtigen Ländern als Grund dafür ansahen, dass die Löhne nicht stärker steigen durften als in den Nachbarländern, um die "Wettbewerbsfähigkeit" zu erhalten.

Es stimmt, dass Belgien eines der letzten Länder ist, in denen die Löhne automatisch an die offizielle Inflation gekoppelt werden. Bei den Verhandlungen zwischen den "Sozialpartnern" geht es also um zusätzliche Erhöhungen zu dieser Indexierung. Aber der Referenzindex ist heute auf 10 Prozent festgelegt, während die tatsächliche Preissteigerung nach Angaben der Gewerkschaften bei 14 Prozent liegt. Die Gewerkschaften bedauern daher die winzige 0,4-Prozent-Aufwertung, die für 2021/2022 gewährt wurde, und befürchten sogar 0 Prozent für 2023/2024. Im Gegensatz dazu haben die Arbeitgeber eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge um 7 Prozent im ersten Halbjahr 2023 durchgesetzt.

Unter diesen Umständen verwandelte sich das Gewerkschaftsmotto, das auf die Forderung nach Verhandlungsfreiheit abzielte, schnell in die Forderung, den Anstieg der Energiepreise zu kompensieren. Die Forderung des Gewerkschaftsbundes FGTB konzentrierte sich auf eine Blockade der Strom- und Gastarife. Dieses Ziel wurde bislang nicht erreicht. Premierminister Alexander De Croo (von der Partei Open VLD, den flämischen Liberalen) hoffte, dass die Europäische Union die Energiepreise deckeln würde. Doch die Mitgliedsstaaten konnten sich nicht darauf einigen, zumal die Europäische Kommission, die sich grundsätzlich für den freien Markt einsetzt, ebenfalls nur zögerlich reagiert.

Die Kommission hat Belgien im Visier. Sie drängt seit Langem auf die Abschaffung der automatischen Lohnindexierung – ein Prinzip, das der EU ein Dorn im Auge ist. In jüngster Zeit hat die Kommission auch scharfe Kritik an Belgien geäußert, und zwar im Rahmen ihrer Analyse der Situation in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Die Analyse wurde am 22. November veröffentlicht, und jede Regierung muss nun im Rahmen der europäischen Wirtschaftsregierung antworten.

Brüssel wirft ... Brüssel vieles vor: zu große Erhöhungen der öffentlichen Ausgaben; und Hilfen für Haushalte, die nicht zielgerichtet genug sind. Die Kommission verweist auch auf ein für 2023 geplantes Haushaltsdefizit von 5,9 Prozent – das höchste in der Eurozone. Darüber hinaus ist die Kommission besorgt, dass es bei zwei Dossiers keine "Fortschritte" gibt: der Steuer- und der Rentenreform. Eine Rüge, die sofort von Georges-Louis Bouchez, dem Vorsitzenden der wallonischen Liberalen – einer Formation, die jedoch Teil der Regierungskoalition ist –, weitergegeben wurde.

Diese Regierungskoalition wird von Kommentatoren aufgrund ihrer Heterogenität weitgehend als unfähig angesehen, eine politische Dynamik in Gang zu setzen. Die 2020 gebildete Koalition besteht aus sieben Parteien: den flämischen und den wallonischen Liberalen, den Sozialisten beider Gemeinschaften, den beiden grünen Parteien, und den flämischen Christdemokraten. Diese chaotische Allianz war eigentlich mit dem Ziel gebildet worden, die autonomistische flämische N-VA von der Macht zu verdrängen.

Die verschiedenen Teile dieser Mehrheit können sich in vielen Fragen nicht einigen. Neben dem Haushaltsentwurf sind sich die Parteien auch uneinig über die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken – mindestens zwei sollen verlängert werden – oder über Lösungen für die Wellen von Asylbewerbern, die die Unterbringungskapazitäten überlasten.

Diese offensichtliche Hilflosigkeit der derzeitigen Regierung verhindert natürlich nicht, dass die politische Klasse in den wesentlichen Fragen übereinstimmt. Natürlich in Bezug auf die weitere europäische Integration, für die das Land zahlreiche Institutionen beherbergt; und auch in Bezug auf die Feindseligkeit gegenüber Russland, das für alles Übel verantwortlich gemacht wird.

Im Oktober kam es jedoch zu einer bemerkenswerten Entwicklung. Zum ersten Mal enthielt sich ein Land bei einem Sanktionspaket gegen Moskau der Stimme. Entgegen allen Erwartungen handelte es sich dabei um Belgien. Der Regierungschef erklärte: "Wie können wir die Solidarität unserer Bevölkerung aufrechterhalten, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen? (...) Wenn die wirtschaftlichen Kosten so hoch werden und Menschen ihre Arbeit verlieren, wird es schwierig werden." De Croo sprach von "Sanktionen, die unserer Wirtschaft mehr schaden werden als der russischen Wirtschaft".

Damit wird anerkannt, dass die EU-Sanktionen – und die russischen Reaktionen in Form von Einschränkungen der Gaslieferungen – direkte Auswirkungen auf die europäischen Volkswirtschaften haben, angefangen bei den Energiepreisen.

Die herrschende politische Klasse scheint daher die Möglichkeit belgischer "Gelbwesten" zu befürchten, wenn die Unterstützung für die Ukraine fortgesetzt und ausgeweitet wird. Offensichtlich konnte der soziale Zorn den führenden Politikern des Landes nicht entgehen.

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