Meinung

Die "regelbasierte Weltordnung" – der Schatten Pizarros

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts begann die gewaltsame Ausbreitung Europas über die Welt, in deren Nachfolge nicht nur die heutige EU, sondern auch die Vereinigten Staaten stehen. Schon bei diesen ersten Schritten fand sich ein Verhalten, das bis heute andauert.
Die "regelbasierte Weltordnung" – der Schatten Pizarros

Von Dagmar Henn

Wir werden sie vorerst wohl noch nicht los, die "regelbasierte Weltordnung". Aber außerhalb des Westens wird sie völlig anders gesehen als dort und ruft völlig andere Erinnerungen hervor. Schließlich ist die Geschichte des Kolonialismus mit allen seinen Aspekten (zu denen auch der Kapitalzufluss gehört, der letztlich die Voraussetzungen für den Kapitalismus schuf) nach wie vor nicht Teil der Schulbildung, oder wird im günstigsten Fall oberflächlich behandelt.

Doch wenn auch diese Geschichte in Westeuropa und den USA keine Rolle zu spielen scheint, ist sie in anderen Teilen der Welt tief eingegraben. Das wundert nicht – während Europa über Jahrhunderte hinweg allerlei Arten gescheiterter Existenzen, gemischt mit Missionaren, über die Weltgegenden ergoss und mit Seuchen und Kriegen alles in Besitz nahm, was nicht rechtzeitig flüchten konnte, spielte sich die ganze Geschichte für die Europäer selbst überwiegend in weit entfernten, sagenhaften Gegenden ab, die man in damaligen Büchern als von Kopffüßlern und Kannibalen bewohnt imaginierte. Selbst der Reichtum, der zusammengeraubt wurde, wurde eher als Streitgegenstand zwischen den europäischen Mächten wahrgenommen, die einander in Seegefechten die Beute abzujagen suchten, denn als Besitz, der ursprünglich ganz anderen gehörte.

Die Kontroverse von Valladolid, die auf Betreiben von Bartolomé de las Casas zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Ureinwohner Lateinamerikas zu Menschen erklärte, der zusah, wie sie unter der Zwangsarbeit dahingerafft wurden, klärte die Frage, welchen Status die außereuropäischen Völker hätten, längst nicht endgültig. Da gab es noch die Rassenlehre des 19. Jahrhunderts, und die Menschenzoos, die erst Mitte des letzten Jahrhunderts verschwanden. Und das Denken, das mehr als fünfhundert Jahre hinterlassen haben, zeigt sich noch heute an Josep Borrells Metapher vom europäischen Garten und dem außereuropäischen Dschungel.

Jared Diamond, ein US-Biologe, hat in seinem Buch "Arm und Reich" schon vor zwanzig Jahren zusammengefasst, welche Gründe es waren, die dieses kleine Anhängsel Asiens namens Europa in die Lage versetzten, den Rest der Menschheit zu unterwerfen. Das waren mitnichten besondere kulturelle Leistungen, sondern das Zusammenwirken ganz anderer Faktoren. Beispielsweise der Viehhaltung und ihrer Folgen – weil zwischen Asien und Europa keine so massive geografische Trennung liegt wie etwa zwischen Nord- und Südamerika oder innerhalb Afrikas, konnten verschiedenste Entdeckungen sich ungehindert ausbreiten, unter anderem verschiedenste Haustiere.

Mit der Viehhaltung kamen aber auch die großen Seuchen, die alle in der einen oder anderen Art vom Vieh auf die Menschen übergegangen waren. Über die Jahrtausende hinweg resultierte das in einer weitgehenden Immunität gegen viele Krankheiten. Die Menschen anderer Weltregionen, in denen diese Haustiere unbekannt waren, waren allerdings nicht immun, nicht einmal gegen gewöhnlichen Schnupfen. Und die Eroberung Amerikas, im Norden wie im Süden, war weit mehr ein Ergebnis der Seuchenwellen, die dort losgetreten wurden und ganze Landstriche entvölkerten, als irgendeiner militärischen Überlegenheit.

Der gleiche Vorteil des Austausches innerhalb einer sehr großen Region galt natürlich auch für technologische Entwicklungen, wie das Schießpulver, das bekanntlich in China erfunden wurde und dessen Folgen man nicht näher erläutern muss. Auch der Kompass stammt von dort, und chinesische Seefahrer waren weit früher auf den Weltmeeren unterwegs als europäische. Allerdings hat China, das noch in vielen anderen Punkten Europa lange voraus war, auf die Eroberung weiterer Gebiete verzichtet.

Die europäischen Kulturen waren aggressiver. Und sie hinterließen rund um den Globus eine breite Blutspur. Der transatlantische Sklavenhandel war eines der großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte und trug weiter zum Reichtum insbesondere der Niederlande und Großbritanniens bei. Die spanische Krone – die in dieser Zeit in den Händen der österreichischen Habsburger lag – bereicherte sich an der Plünderung Mexikos und Perus. Die Briten horteten Edelsteine aus Indien. Heute redet man sich ein, das sei alles lange her und schon längst vorüber; aber die aktuellen Auseinandersetzungen, wie um Niger, drehen sich immer noch darum, diese Herrschaft endlich abzuschütteln.

Wenn man begreifen will, wie diese Geschichte von der anderen Seite betrachtet aussieht und welche Vorstellungen der Begriff einer "regelbasierten Weltordnung" bei den Opfern des Kolonialismus auslöst, greift man am besten auf einen einzelnen Moment zurück, der ziemlich am Anfang der großen kolonialen Expansion lag: im Jahr 1532 in Peru. Zehn Jahre zuvor hatte Hernán Cortés das Reich der Azteken in Mexiko eingenommen und die Gier nach dem Gold Lateinamerikas entfacht.

In einem Text in National Geographic wird diese Szene folgendermaßen beschrieben:

"Die Spanier sinnen nur auf einen Vorwand, um die Wirkung ihrer Waffen entfalten zu können. Als Atahualpa mit ihnen am 16. November 1532 zusammentrifft, fordern sie ihn umgehend auf, sich dem spanischen König zu unterwerfen. Der Dominikanerpater Vincente Valverde reicht ihm eine Bibel und sagt, sie enthalte die Worte des einzig wahren Gottes. Der Inka aber kennt keine Schreibschrift und wird von seinem Volk selber als Gott verehrt. Er hält, in seiner Sänfte sitzend, die Bibel ans Ohr, und als er nichts hört, wirft er sie auf den Boden. Gleich darauf kracht die erste Salve, eine halbe Stunde lang dauert das Gemetzel. Atahualpa fällt Pizarro in die Hände."

Francisco Pizarro war ein Schweinehirte, ein europäischer Glücksritter, von denen es unzählige gab. Er demonstrierte im Gespann mit dem Dominikaner den Schachzug, der immer wieder das Vorgehen der Kolonisatoren prägen sollte – willkürlich gesetzte Regeln zu nutzen, um das Gegenüber zu unterjochen. Ähnlich wurde vielerorts Grund und Boden angeeignet. Alles, was nicht in den Büchern stand, die die Europäer einführten, begründete keinen Besitzanspruch. Wer die Regeln setzt, ist derjenige, der sich die Vorteile verschafft.

Weil diese Erfahrung außerhalb des Westens weitaus präsenter ist als in diesem, ist die Unschärfe, die der Begriff der "regelbasierten Weltordnung" enthält, dort sofort Grund zur Beunruhigung. Es ist schlicht eine weitere Bibel, die als fremdartiger Gegenstand in die Hand gedrückt wird, um dann die Rechtfertigung für einen Angriff zu liefern.

In Europa selbst kann man problemlos behaupten, diese "regelbasierte Weltordnung" sei doch mit dem Völkerrecht identisch. Die Sicht auf den Rest der Welt besteht ohnehin nach wie vor aus Garten versus Dschungel, beziehungsweise die Vorstellung vom Völkerrecht, die im Westen existiert, sieht es als eine Art westliches Eigentum, als einen eigenen Text, den man auch nach Belieben umschreiben und über dessen Deutung man bestimmen kann. So, wie die Spanier bestimmten, dass es ein Vergehen sei, die Bibel auf den Boden zu werfen, selbst wenn man nicht einmal zu erkennen vermag, dass es sich dabei um verschriftlichte Kommunikation handelt.

Pizarro setzte bei dieser Begegnung nicht nur die Regeln fest, ohne seinem Gegenüber eine Mitsprache dabei zu ermöglichen. Er wandte sie auch sofort gegen dieses Gegenüber, und zwar auf eine Art und Weise, dass er nicht nur seine Schwäche durch Heimtücke in Überlegenheit verwandeln konnte, sondern sich zudem auch noch sicher war, in höherem Interesse gehandelt zu haben. Dieser Moment zu Beginn der kolonialen Geschichte definiert eine Art der Begegnung, die sich in unterschiedlichen Variationen noch hundertfach wiederholen sollte, an anderen Orten und zu anderen Zeiten.

Aber entschlüsseln kann man sie nur durch den Blick von Atahualpa, nicht durch den Pizarros. So ist es auch nicht Borrell, der definieren sollte, wo der Garten ist und wo der Dschungel; seine Sicht steht in direkter Nachfolge jener von Pizarro.

Nach langer Geiselhaft, aus der ihn auch die Auslieferung der peruanischen Goldschätze nicht befreien konnte, gewährten die spanischen Besatzer dem Inkaherrscher Atahualpa letztlich, ihn nach der Taufe zu strangulieren, statt ihn zu verbrennen. Ob der Westen nun mit einer Bibel in der Hand erscheint oder mit einem Buch voller Regeln, die er selbst setzt, ist unerheblich. Der Schatten Pizarros wird überall auf der Welt erkannt, nur nicht im Westen selbst.

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