Mogelpackung Pflegereform: Mini-Zuschuss wird kaum einen Heimbewohner entlasten

Zu arm, zu alt, zu hohes Sterberisiko: Die von der Bundesregierung angekündigte und mit großen Worten angepriesene Pflegereform wird an den meisten bedürftigen Senioren in Pflegeeinrichtungen komplett vorbeigehen.
Mogelpackung Pflegereform: Mini-Zuschuss wird kaum einen Heimbewohner entlastenQuelle: www.globallookpress.com © Federico Gambarini / dpa

von Susan Bonath

Eines kann die Bundesregierung wirklich gut: blenden. Das aktuelle Beispiel ist der Gesetzentwurf zur Pflegereform. Mit vielen Soll- und Kann-Bestimmungen will sie einerseits den Pflegekräften zur Entlohnung in Höhe der Tarifgehälter verhelfen – über die Hälfte von ihnen schuftet derzeit für weniger. Andererseits soll der Eigenanteil der Bewohner für die reine Pflege in stationären Einrichtungen ab dem zweiten Jahr des Aufenthalts bezuschusst werden. Problem: Die Ersparnis ist mickrig und die meisten Betroffenen werden gar nicht in diesen "Genuss" kommen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte die Pläne am Dienstag deshalb als "Mogelpackung". Dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider rügte:

"Dieser Kompromiss ist fachlich, politisch und ethisch unzumutbar."

Große Worte für Mini-Zuschuss

Die Bundesregierung will nach eigenen Angaben Heimbewohner entlasten. Konkret sieht das so aus: Im ersten Jahr ihres Heimaufenthalts sollen die Senioren den kompletten Betrag für Unterbringung, Versorgung und Pflege bezahlen. Im zweiten Jahr soll der Staat 25 Prozent des Anteils für die Pflegekosten zuzahlen. Im dritten Jahr ihres Aufenthalts würden die Senioren einen Zuschuss von 50 Prozent, ab dem vierten von 75 Prozent erhalten.

Aber die Sache hat mehrere Haken: Der Zuschuss bezieht sich lediglich auf die reinen Pflegekosten. Diese machen weniger als die Hälfte, in manchen Bundesländern nicht einmal ein Drittel des Betrages aus, den die Bewohner insgesamt zahlen müssen. In diesem sind neben diesen Pflegekosten noch stattliche Beträge für Kost und Logis sowie Investitionen enthalten. Dieser Gesamtbeitrag klettert seit Jahren in die Höhe.

Nach Berechnungen des Verbandes der Ersatzkassen (VDEK) stiegen die Gesamtkosten für Heimbewohner im bundesweiten Durchschnitt allein seit 2018 um rund 17 Prozent auf 2.068 Euro. 40 Prozent davon (831 Euro) gingen im Mittel für die Pflege drauf. Zwischen den Bundesländern gibt es aber große Unterschiede. So sind in Sachsen-Anhalt 1.465 Euro pro Monat fällig, 580 Euro davon (rund 40 Prozent) entfallen auf den Pflegekostenanteil. In Nordrhein-Westfalen (NRW) indes werden 2.460 Euro gefordert, davon 854 Euro (rund 35 Prozent) Pflegekosten.

Somit würden Heimbewohner, gemessen an den heutigen Kosten, in Sachsen-Anhalt im zweiten Jahr 1.320 statt 1.465 Euro pro Monat bezahlen. In NRW wären diesem Gesetzentwurf zufolge 2.246,50 statt 2.460 Euro monatlich fällig. Im dritten Jahr betrüge der Eigenanteil in Sachsen-Anhalt dann immer noch 1.175 und ab dem vierten 1.030 Euro. In NRW läge er im dritten Heimjahr noch bei 2.033, ab dem vierten bei 1.819,50 Euro. In vier Jahren allerdings dürften in der Praxis heutige Summen längst Geschichte und der Eigenanteil weiter gestiegen sein.

Altersarmut: Keine Ersparnis für das Gros der Heimbewohner

Die gepriesene Mini-Ersparnis würde für die Mehrheit der Heimbewohner ohnehin nur bloße Theorie bleiben. Denn wie zu Jahresbeginn aus einer Antwort der Bundesregierung an die Linksfraktion hervorging, bekommen über die Hälfte aller Rentner (56,2 Prozent) in Deutschland weniger als 1.000 Euro Altersbezüge im Monat. Bei ihnen muss schon heute zusätzlich das Sozialamt einspringen, sofern keine wohlhabende Verwandtschaft vorhanden ist. Und daran wird sich mit diesem Gesetz nichts ändern.

Für Heimbewohner heißt das, dass ihnen das Sozialamt lediglich ein "Taschengeld" von 27 Prozent des normalen Regelsatzes für Bedürftige zur freien Verfügung belässt. Aktuell sind dies 120,42 Euro pro Monat. Von dieser Minisumme müssen die Betroffenen auch zusätzliche Dienstleistungen wie Friseurbesuche, aber auch sämtliche Waren, von Bekleidung über Körperpflegemittel bis hin zum Telefon finanzieren.

Fast die Hälfte wird den Zuschuss nicht erleben

Ferner dürften die allermeisten Betroffenen nie in den Genuss des geplanten Zuschusses kommen. Der Grund: Sie sterben vorher. Einer Analyse des Alters-Instituts zufolge starben im Jahr 2014 betreute Männer im Mittel nach 17,9 Monaten, Frauen nach 31,6 Monaten – Tendenz fallend.

Allerdings stirbt demnach ein knappes Fünftel der Heimbewohner in den ersten vier Wochen nach dem Einzug in die Einrichtung. 29 Prozent der Betroffenen überstehen die ersten drei Monate nicht. Und nur gut die Hälfte (53,2 Prozent) überlebt das erste Jahr im Heim, in dem noch kein Zuschuss gezahlt werden soll. Lediglich 22 Prozent der Frauen und 10,8 Prozent der Männer überstehen die ersten drei Jahre in einem Pflegeheim. Auf vier Jahre kommen noch 16 Prozent der Frauen und knapp sieben Prozent der Männer. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband kritisierte:

"Es ist für uns nicht tragbar, dass Heimbewohner mit kürzerer Lebenserwartung völlig außen vor bleiben sollen."

Nötig seien keine "halbherzigen Tippelschritte", sondern eine "Vollkaskoversicherung als Bürgerversicherung", so Schneider weiter. Halbherzige Tippelschritte in sozialen Fragen, die oft nicht einmal die Teuerung ausgleichen, gehören allerdings zum Tagesgeschäft der Bundesregierung.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum ThemaGesundheit statt Profite – Demonstrationen für gemeinwohlorientiertes Gesundheitssystem

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.