Meinung

Dominoeffekt: Schulden der Schwellenländer haben Potential für Weltwirtschaftskrise

Lockdowns, hohe Fremdwährungsschulden und stark steigende Lebensmittelpreise bei gesunkener Wirtschaftskraft sind ein toxischer Cocktail für einige Schwellenländer. Das hat das Potenzial, eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen.
Dominoeffekt: Schulden der Schwellenländer haben Potential für WeltwirtschaftskriseQuelle: Reuters © Shannon Stapleton

von Christian Kreiß

Mitte Mai veröffentlichte das Institute for International Finance (iif), eine globale Vereinigung von Finanzinstituten und Lobbyorganisation der Finanzindustrie, seinen jüngsten Global Debt Monitor, in dem vierteljährlich die weltweiten Schulden analysiert werden. Demnach stiegen die Schulden weltweit vom ersten Vierteljahr 2020 bis zum ersten Vierteljahr 2021 um 36 Prozentpunkte auf 360 Prozent vom Welt-Sozialprodukt, einem neuen all-time-high. 360 Prozent der Weltwirtschafskraft heißt, der Großteil der arbeitenden Bevölkerung der Erde müsste etwa dreieinhalb Jahre lang ohne Lohn und Brot arbeiten, um die Schulden an die Gläubiger, das sind im Wesentlichen die oberen 10 Prozent der Weltbevölkerung, zurückzuzahlen. Mit etwas gesundem Menschenverstand betrachtet kann und wird das nicht stattfinden. 

Die Schulden der Entwicklungsländer (inklusive China) erreichten Ende März 2021 den neuen Höchststand von 86.200 Milliarden bzw. 86,2 Billionen US-Dollar. Das sind 11 Prozent mehr als Ende März 2020. Ihre Staatsschulden sind seit Ende 2019 von 52 auf 60 Prozent ihrer Wirtschaftskraft angestiegen, der Medianwert der Staatsschulden in Schwellenländern stieg in diesem Zeitraum gar um 15 Prozentpunkte vom BIP. Dazu kommt noch ein Anstieg der Medianschulden von insgesamt knapp 10 Prozent bei privaten Haushalten, Unternehmen und Finanzdienstleistern, sodass sich im Median der Entwicklungsländer die Schulden seit den Lockdowns um knapp 25 Prozentpunkte vom BIP erhöht haben. Um diese zusätzlichen Schulden wieder abzutragen, müssten die Menschen in den Entwicklungsländern ein weiteres Vierteljahr ohne Lohn und Brot arbeiten. Die Lockdowns haben viele ärmere Länder also in eine deutlich stärkere finanzielle Abhängigkeit gebracht. 

Kommt eine Schuldenkrise in Schwelländern, die auf uns überschwappt? 

Im Folgenden soll untersucht werden, ob wegen dieses Schuldenanstiegs die Gefahr einer Schulden- oder Finanzkrise bzw. eines Crashs an den Anleihe-Märkten von Schwellenländern besteht. Solche regionalen Finanzkrisen können sich oft leicht auf andere Länder oder gar auf die Weltwirtschaft übertragen, wie etwa die südostasiatische Finanzkrise 1997-98 zeigt. 

Durchschnittszahlen sind normalerweise wenig aussagekräftig, weil gute und schlechte, hohe und niedrige Schulden vermischt werden. Medianzahlen sind besser, aber zeigen auch nicht die reale Lage in den einzelnen Ländern bzw. das konkrete Insolvenzrisiko auf. Um zu beurteilen, ob einzelne Länder wirklich ihre Schuldenlast bedienen können, muss man die Länder einzeln betrachten und dann überlegen, ob eine nationale Finanzkrise dort eine genügend große Wucht entwickeln könnte, um auch die Weltfinanzmärkte bzw. die Weltwirtschaft zu belasten oder gar einen weltweiten Finanzcrash auszulösen, kurzum: Ob davon auch eine Gefahr für unsere Sparbücher, Lebensversicherungen, Anleihen und andere Vermögenswerte ausgehen könnte. 

Besonders interessant dafür erscheinen mir die nun folgenden Länder. Zum einen, weil deren Wirtschaftskraft, vor allem in Summe, nicht unerheblich ist und zum anderen, weil von deren Schuldenlast bzw. Schuldenstruktur eine reale Gefahr für die Finanzmärkte ausgehen könnte. 

Länderanalysen 

Die Türkei hatte Ende März 2021 bei einer Bevölkerung von über 83 Millionen eine Gesamtverschuldung von 163,4 Prozent vom BIP. Ein Jahr davor waren es 144,3 Prozent, das entspricht also einem Anstieg der Schuldenquote um 13,2 Prozent durch die Lockdowns. Davon sind laut dem Global Debt Monitor mehr als die Hälfte, 87,2 Prozentpunkte vom BIP, Schulden in ausländischer Währung. Das entspricht etwa 600 Milliarden US-Dollar. Die türkische Lira steht momentan bei ungefähr 8,35 Lira pro Dollar. Vor gut drei Jahren, Anfang 2018 stand sie bei ca. 3,75 Lira pro Dollar. Das entspricht einer Abwertung um über 50 Prozent innerhalb von drei Jahren.

Anders ausgedrückt, ein türkisches Unternehmen, das vor drei Jahren Schulden in Euro oder Dollar aufgenommen hat, muss heute mehr als doppelt so viel Geld, in Lira gerechnet, zurückzahlen. Dazu kommt, dass die inländischen langfristigen Lira-Zinsen im März diesen Jahres von unter 13 auf über 17 Prozent gesprungen sind, als Präsident Erdogan den Chef der türkischen Notenbank auswechselte. Das heißt, für türkische Unternehmen ist die Aufnahme von Schulden in Inlandswährung momentan sehr teuer. 

Fazit: Das Risiko, dass türkische Schuldner in den kommenden Monaten ihre Schulden, insbesondere diejenigen in ausländischer Währung nicht bedienen können, ist angesichts des Währungsabsturzes in jüngerer Zeit relativ hoch. Die Türkei könnte ein 600 Milliarden schwerer Dominostein sein, der in den nächsten Monaten oder ein bis zwei Jahren umfällt und dadurch Finanz- und Währungsturbulenzen auslöst. Zur Erinnerung: Die Schulden der Lehman-Bank, die im Herbst 2008 pleiteging und dadurch die Finanzkrise ausgelöst hat, betrug im Mai 2008 613 Milliarden US-Dollar

Brasilien hatte laut Global Debt Monitor Ende März 2021 eine Gesamtverschuldung von 232,2 Prozent vom BIP, ein Jahr davor 212 Prozent, das entspricht also einem Anstieg der Schuldenquote um 9,5 Prozent durch die Lockdowns. Davon sind 27,7 Prozentpunkte vom BIP Schulden in ausländischer Währung. Das entspricht bei einem BIP von 1.840 Milliarden US-Dollar (2019) etwa 510 Milliarden US-Dollar. Der brasilianische Real hat sich seit Anfang 2018 um etwa ein Drittel abgewertet.

Das heißt, brasilianische Schuldner, die sich damals in Dollar verschuldet haben, müssen heute etwa 50 Prozent mehr in brasilianischen Real bezahlen. Dazu kommt, dass die brasilianische Wirtschaft seit etwa 10 Jahren nicht mehr wächst. Das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen lag 2019 leicht unter dem Niveau von 2010 und sieben Prozent niedriger als zum Höchststand 2013. Das britische Wirtschaftsmagazin Economist spricht daher von "Brasiliens düsterem Jahrzehnt".

Dazu kommt: 2020 ist das brasilianische BIP wegen der Lockdowns um weitere vier Prozent geschrumpft, gegenüber der Vor-Lockdown-Zeit ist die Zahl der Beschäftigten dramatisch von über 94 Millionen auf derzeit unter 86 Millionen Menschen zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit befindet sich momentan mit 14,7 Prozent auf einem Rekordhoch und in den Favelas hallt laut Economist das Gewehrfeuer wider. 10 Jahre Wirtschaftsstagnation oder gar leichter Rückgang sowie starke Unterbeschäftigung sorgen nicht gerade für soziale Zufriedenheit oder sozialen Frieden. 

Fazit: Brasilien steht ökonomisch gar nicht gut da. Wenn der "Gigant Lateinamerikas", wie der Economist das Land nennt, mit einem BIP von etwa 1,84 Billionen Dollar und über 210 Millionen Einwohnern seine Schulden nicht mehr bedienen kann, wäre dies ein ziemlich großer umfallender Dominostein im Umfang von über 500 Milliarden Dollar Auslandsverbindlichkeiten, der die Weltfinanz- und Anleihemärkte empfindlich belasten könnte. 

Mexiko mit seinen 126 Millionen Einwohnern und einem BIP von 1.270 Milliarden Dollar hat Fremdwährungsschulden in Höhe von 29,9 Prozent vom BIP. Das entspricht etwa 380 Milliarden Dollar. Obwohl die Gesamtschulden Mexikos mit unter 98 Prozent vom BIP recht niedrig sind, kann von den Fremdwährungsschulden doch eine gewisse Gefahr ausgehen, denn Mexiko erlebt nun seit acht Quartalen ununterbrochene Wirtschaftsschrumpfung – um insgesamt 9,7 Prozent – und das bei pro Jahr um gut eine Million steigernder Bevölkerung. Die Zahl der arbeitenden Menschen ist gegenüber der Vor-Lockdown-Zeit von 56 auf 53 Millionen zurückgegangen. Diese Entwicklungen verheißen für den sozialen Frieden nichts Gutes und das könnte die Bedienung der Fremdwährungsschulden gefährden. 

In Indien mit seinen etwa 1,35 Milliarden Einwohnern erhöhten sich die Gesamtschulden vom ersten Quartal 2020 zum ersten Quartal 2021 um 11 Prozentpunkte auf 183,5 Prozent vom BIP, das sich 2019 auf 2.870 Milliarden Dollar belief. Die Fremdwährungsschulden des Landes betragen 10,8 Prozent vom BIP und damit etwa 310 Milliarden Dollar. 

Südafrika mit seinen etwa 60 Millionen Einwohnern und einem BIP (2019) von ca. 350 Milliarden US-Dollar hat etwa 129 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden (36,7 Prozent vom BIP). Die Gesamtschuldenquote Südafrikas stieg im Zuge der Lockdowns um 9 Prozent auf 182,6 Prozent vom BIP. 

Dazu kommen noch folgende Länder mit nennenswerten Fremdwährungsschulden: Ungarn 54,8 Prozent vom BIP, Polen 50,1 Prozent, Ukraine 52 Prozent, Indonesien 24,5 Prozent, Malaysia 35,1 Prozent, Chile 54,1 Prozent, Kolumbien 42,2 Prozent. Bis Ende 2022 werden knapp 2.000 Milliarden US-Dollar Fremdwährungsschulden von Entwicklungsländern fällig  (eigene Berechnungen anhand der Daten des Global Debt Monitors, Anm. d. A.). Mit anderen Worten: Wenn die überwiegend westlichen Gläubiger die Kreditverlängerung in den nächsten 18 Monaten verweigern, kann es schnell zu Schuldenausfällen und Insolvenzen kommen. 

Kurzum: Es gibt eine ganze Reihe von Schwellenländern mit beachtlich hohen Fremdwährungsschulden, die unter den Lockdowns ökonomisch und sozial erheblich gelitten haben. Dadurch können sie möglicherweise in absehbarer Zeit Probleme haben, ihre Fremdwährungsschulden zu bedienen. Solche zunächst regionalen Finanzmarkt- und Währungsturbulenzen können schnell auch auf die Industrieländer überspringen, in denen der Großteil der Gläubiger sitzt. 

Anstieg der Lebensmittelpreise 

In vielen der aufgeführten Länder gibt es einen beachtlichen Anteil von Menschen, die sehr geringe Einkommen und teilweise erhebliche Mühe haben, tagtäglich über die Runden zu kommen. Laut dem letzten Bericht der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) zu den Lebensmittelpreisen vom 3.Juni 2021 sind die Lebensmittelpreise weltweit seit Juni 2020 stark angestiegen. Sie lagen im Mai 2021 um 39,7 Prozent über dem Niveau von Mai 2020.

Einen solch starken Preisanstieg gab es in den letzten 60 Jahren nur selten. Lebensmittel sind heute inflationsbereinigt beinahe so teuer wie noch nie in den letzten zwei Generationen. Lediglich um das Jahr 1974 waren sie für etwa zwei Jahre um gut 10 Prozent teurer als heute. Das bedeutet für viele Menschen in Entwicklungsländern, dass das Essen in den letzten 12 Monaten deutlich teurer geworden ist und derzeit laufend teurer wird. 

Also zu den ganzen Übeln, die durch die Lockdowns kamen, wie Fabrik- und Gewerbeschließungen, Schul-, Hochschul- und Kulturschließungen, Reise- und Mobilitätseinschränkungen, wegbrechender Tourismus usw., die alle zu teilweise sprunghaft steigender Arbeitslosigkeit und wegbrechenden Einnahmen in den Entwicklungsländern geführt haben, kommen nun als weiteres Elend für die Unterschicht dramatisch steigende Lebensmittelprise hinzu. Das verheißt nichts Gutes. Dadurch kann es leicht zu Unruhen oder Aufständen kommen wie 2007 während der Tortilla-Krise in Mexiko. 

Zusammenfassung und Folgerungen 

Die Schulden in vielen Entwicklungsländern sind durch die Lockdowns seit März 2020 stark gestiegen. Gleichzeitig ist die Wirtschaftskraft deutlich gesunken und hohe Arbeitslosigkeit entstanden. Etwa ein Dutzend Schwellenländer haben, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, signifikant hohe Fremdwährungsschulden und sind dadurch bei sich verschlechternden Wechselkursen besonders gefährdet, ihre Schulden nicht zurückzahlen zu können. Wir sprechen hier über Fremdwährungsschulden von deutlich über 2 Billionen Dollar. 

Dazu kommen in den letzten 12 Monaten dramatisch steigende Lebensmittelpreise (plus 40 Prozent), die der ohnehin bereits durch die Lockdowns und ihre schlimmen ökonomischen sowie sozialen Folgen stark gepeinigten Unterschicht dieser Länder weiter zusetzen und zu Hungerkrisen führen könnten. Das alles ergibt einen brisanten sozialen und politökonomischen Cocktail, der leicht zu Unruhen oder Aufständen in einigen Ländern führen könnte. 

Aber auch ohne Unruhen könnte es einfach aufgrund des Anstiegs der Schulden bei gleichzeitig geschwächter Wirtschaftskraft zu ansehnlichen Zahlungsausfällen und einer Krise an den Anleihemärkten für Schwellenländer kommen. Diese könnte über die global vernetzten Finanzmärkte schnell auch auf die Industrieländer überschwappen. Dadurch könnte eine weltweite Finanzkrise ausgelöst werden, da die Schulden nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den Industrieländern so hoch sind wie noch nie in der Geschichte. 

Fazit 

Die Unfähigkeit eines oder mehrerer Schwellenländer, seine Schulden zu bedienen, könnte der Dominostein sein, der eine ganze Kette weiterer Zahlungsausfälle auslöst, was schließlich zu einer globalen Finanzkrise führen könnte. Die Schuldenproblematik der Schwellenländer könnte der Funke sein, der einen Flächenbrand entzündet.

Angesichts der derzeit extrem hohen Börsenbewertungen, vieler sehr hoch bewerteter Immobilien, der vielen Zombie-Unternehmen, der vielen aufgeschobenen Insolvenzen, des extrem hohen Schuldenberges und der explodierten Zentralbankgeldmengen reicht möglicherweise ein kleiner Funke, um einen Weltfinanzbrand herbeizuführen, die Finanzkrise und Great Recession 2.0. Diese dürfte deutlich schlimmer werden als die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-2009, weil die Ungleichgewichte, Geld- und Schuldenberge heute ungleich größer sind als vor 14 Jahren.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Zum Autor:

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Bundestagskandidat für die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis). Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de  

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