Meinung

"Der Faschismus kommt nicht durch" – Das Unsterbliche Regiment 2022 in Berlin

In Berlin fand der traditionelle Gedenkmarsch "Unsterbliches Regiment" in diesem Jahr unter strengen Auflagen statt. Vor allem St.-Georgs-Bänder und Sowjetfahnen durften nicht gezeigt werden. Das sorgte bei den Versammelten nur kurz für getrübte Stimmung.
"Der Faschismus kommt nicht durch" – Das Unsterbliche Regiment 2022 in BerlinQuelle: RT

von Wladislaw Sankin 

Bislang habe ich den traditionellen Volksmarsch "Unsterbliches Regiment" immer aus der Ferne beobachtet – ich bekam am 9. Mai eigentlich nie frei, weil es gerade an diesem Tag für uns Journalisten viel zu tun gibt. Aber es gab auch einen anderen Grund, warum ich mich nicht mit einem Schild in der Hand unter die Marschteilnehmer mischen wollte.

Meine beiden Großväter dienten mit Anfang 20 die gesamte Kriegszeit über, kamen nach Europa durch und erlebten den Tag des Sieges, einer bei Prag, der andere in Budapest. Der Krieg endete glücklich für sie, und ich hatte allen Grund, stolz auf meine Vorfahren zu sein und die Schilder mit deren Porträts als Teilnehmer des "Regiments" an diesem heiligen Feiertag mit meinen Landsleuten hochzuhalten.

Aber meinem Engagement fehlte ein gewisses Etwas, und es hätte mich Überwindung gekostet, meine Familiengeschichte derart öffentlich zu machen. In diesem Jahr war das ganz anders. Ich habe keine Minute daran gezweifelt, dass ich am 9. Mai 2022 beim "Unsterblichen Regiment" in Berlin dabei sein muss. Polizeiauflagen des Berliner Senats zur Symbolik bei den Feierlichkeiten gaben ihnen die fehlende Note in Form von politischer Brisanz, die die Teilnahme schließlich für mich zum Imperativ machte.

Symbole und Kennzeichen, die geeignet sein könnten, "Russlands Angriffskrieg" auf die Ukraine zu billigen oder zu verherrlichen, seien verboten, hieß es in einer Verfügung der Polizei Berlin. Dazu gehörten St.-Georgs-Bänder, Sowjetfahnen und Musik aus den Kriegsjahren wie etwa "Der heilige Krieg". Russische Soldaten tragen die schmalen schwarz-orangene Streifen ja schließlich bei ihrem Militäreinsatz in der Ukraine auf ihren Helmen, der im Westen mitunter als "Vernichtungskrieg" gegen die Ukraine bewertet wird.

Dennoch habe ich die Regiments-Schildchen mit zwei Elementen gebaut, die mir zum Problem werden könnten – mit kleinen St.-Georgs-Streifen und dem Bild des Ordens des Großen Vaterländischen Krieges. Mir war nicht klar, inwieweit die Verfügung für die Porträts der Kriegsveteranen gilt. Alle, die die Geschichte des Ukraine-Konflikts kennen, wissen, wie diese Symbolik von den russophoben Regierungen in Kiew und im Baltikum mit dem Feiertag selbst schrittweise abgeschafft wurde bis hin zu einem kompletten Verbot und Strafverfolgung sogar für den privaten und nicht öffentlich zur Schau gestellten Besitz. Nun zogen deutsche Kommunen nach, die dazu verschiedene Auflagen verfügten und im Solidaritätseifer den gleichen Weg beschritten wie die Ukraine selbst.

Die Einschränkung machte die Veranstalter des "Unsterblichen Regiments" nervös, und sie nahmen für den Fall der Fälle Kreppband mit, um die eventuell nicht erlaubte Symbolik bei den Teilnehmern zuzukleben. Sie wollten keine Vorfälle, keinen Streit und keinen Stress – das kann man sehr gut verstehen. Bevor ich jedoch das Angebot einer Aktivistin mit dem Kreppband in der Hand annahm, hatte ich mein Schild auf den Boden gestellt und zu den Polizisten gedreht, die nur wenige Meter entfernt gestanden waren. Ihre Blicke, die sie auf Reizsymbole warfen, waren Aussage genug. Einer nickte vielsagend dabei.

Mein Unbehagen war groß, und für einen kurzen Moment verlor ich die Kontrolle über die Schildkonstruktion, die krachend auf den Boden fiel – das Glas zerbrach. Für einen Moment lagen die Porträts meiner Großväter kaputt auf dem Boden. Sofort hob jemand die Scherben auf und sammelte sie in einer Papiertüte, sofort waren mehrere Fotografen da, die gierig nach irgendwelchen Vorfällen suchten. Es kam aber zu keinem Konflikt, ich bekam Kreppband, reparierte die Porträts und klebte die unerlaubten Bilder widerwillig, aber gehorsam zu.

Wenige Minuten später gesellte sich ein guter Bekannter von mir dazu, ein russischsprachiger Berliner Schriftsteller, der eine kleine symbolische Medaille mit Farben der russischen Trikolore und ein Bildnis der russischen Dichterin Anna Achmatowa trug. "Für mich sollte eigentlich eine Ausnahmeregelung gelten, weil dies eine Auszeichnung ist", sagte er und zeigte auf seine Tasche, in der sich die entsprechende Erlaubnis aufgrund von Trägerrechten befand.

Doch das half nicht. Schnell tauchte ein riesiger junger Polizist vor uns auf und forderte meinen Bekannten höflich, aber bestimmt auf, die Auszeichnung zu entfernen. Die Erlaubnis war auf Russisch verfasst, für ihn war dies also ein nutzloses Dokument. "Diese Dichterin, deren Bild jetzt entfernt werden muss, litt zu Sowjetzeit unter Repressionen. Jetzt passiert es mal wieder", sagte er dem Polizisten, der natürlich nicht verstand, worum es ging.

Im Endeffekt haben viele, sehr viele Teilnehmer die Schilder so notdürftig wie ich zugeklebt. "Gestern, bei der ukrainischen Veranstaltung, haben die Ukrainer ihre Fahnen doch tragen dürfen", sagte eine Nachbarin. Bei der Kundgebung hatten proukrainische Sprechchöre die ganze Palette an ukrainischen Fascho-Parolen bis hin zu "Heil der Ukraine, den Helden Ruhm" oder "Ukraine über alles" gerufen. Einmal war die Polizei doch eingeschritten – ein 25-Meter-Banner hatten die Aktivisten doch wieder einrollen müssen.

"Wir sind heute um ein Vielfaches zahlreicher", versicherte mir mein Bekannter, der auch am 8. Mai am Ort des Geschehens gewesen war. "Gestern war höchstens ein Hundert ukrainischer Aktivisten da." Um 11:30 Uhr setzte sich unser Zug in Bewegung. Obwohl es nur wenige Hundert Meter bis zum Ziel am Sowjetischen Ehrenmal zu gehen waren, waren wir 20 bis 30 Minuten unterwegs. Vor dem Denkmal war eine Polizeischleuse aufgestellt, die die Menge nach und nach zum Denkmal durchließ.

Die Leute sprachen miteinander, erzählten von den Kämpfern auf den Porträts, beschwerten sich über die antirussische Gehirnwäsche in Schulen und Kindergärten und versicherten einander, dass am Ende alles gut sein wird und die Wahrheit gewinnt. Über die russische militärische Spezialoperation in der Ukraine redete niemand. Doch sie war kein Elefant im Raum. Es schien eher so, als herrsche über die Ereignisse in der Ukraine unter den Anwesenden ein Grundkonsens, der keiner Worte bedarf. Ab und zu sangen die Menschen bekannte lyrische Sowjet-Lieder mit Kriegsbezug oder riefen etwa "Danke Opa für den Sieg!" ("Спасибо деду за победу")

Als wir uns dem Ehrenmal näherten, rief die Menge plötzlich "Hurra!" und kurz vor der Schleuse "Der Faschismus kommt nicht durch!" Das dauerte nur kurz, wirkte aber wie ein Befreiungsschlag auf die Stimmung, die sowieso immer lockerer und gelöster wurde. Am Ehrenmal warteten Dutzende Foto- und Videoreporter und sonstige Menschen mit Kameras auf uns. Leute legten frische Blumen auf Marmorplatten nieder, ließen sich fotografieren, unterhielten sich miteinander, suchten nach Bekannten und wollten einfach nicht gehen. Sie stellten sich auch gerne als Fotomotive für die anderen zur Verfügung, wie es einmal mit einem kleinen Mädchen passierte, das mit einem Plakat ihrer Vorfahren die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Es lief dennoch nicht ohne Konflikte ab. Einige wenige Proukrainer verwickelten die ihnen am nächsten stehenden Demonstranten in eine Polemik, die mit der Frage anfing, was es nach dem 24. Februar, dem Tag des Beginns der russischen Militäroperation, eigentlich zu feiern gibt. "Ihr feiert den Gulag!", sagte ein tätowierter Mann mit Sonnenbrille. Dieser Provokateur hat schon am Tag zuvor am selben Ort die proukrainische Demo mit obszönen antirussischen Parolen aufgeheizt.

Schnell kam es zu einem kurzen Handgemenge, worauf die Polizei einschritt und einen bulligen "Prorussen" wegschaffte. Die "Proukrainer" blieben verschont, wobei die Polizei natürlich in der Hitze des Gefechts nicht unterscheiden konnte, wer zur welcher Partei angehörte.

Am Ende sang eine kleine Frauengruppe mit einem Jungen im Schulalter das melancholische Lied "Kraniche" über die Seelen der gefallenen Soldaten, was zweifellos der emotionale Höhepunkt der ganzen Aktion war.

Viele Korrespondenten suchten unter den Teilnehmern Gesprächspartner für ihre Reportagen aus, und ich musste sogar zweimal vor ein Mikrofon treten. Was ich nicht gesagt habe, aber hier an dieser Stelle gerne loswerden will: Diejenigen, die den Sieg über den Faschismus mit der Ehrung der Befreier feiern, beschränken sich nicht auf nationale, staatliche oder ethnische Grenzen. Wir wollen unser schönes Gefühl mit jedermann teilen, auch und vor allem mit denjenigen, die wegen ihrer Herkunft keine Porträts in die Hand nehmen und singend mitgehen können. Und wir stellen jedes Mal fest, wie viele mitfühlende (auch nicht im Osten sozialisierte) Deutsche es dabei gibt. Das bringt uns Hoffnung, dass die Wahrheit über den Sieg trotz der momentanen Dämmerung ungetrübt weiterleben wird.

Und noch etwas: Diejenigen in Kiew, die diese Feierlichkeit gerne stören oder uns gar stehlen möchten, konnten an dieser Stelle keine auch nur annähernd vergleichbar schöne Feier auf die Beine stellen. Der sogenannte "Tag der Trauer und Versöhnung" (Versöhnung mit wem, mit den Nazis?) und auch noch am "falschen" Tag davor, wird die Strahlkraft des Tags des Sieges niemals erreichen und für immer ein künstliches Konstrukt bleiben. Das Volksgedächtnis kann man nicht täuschen und durch keine Propaganda ersetzen. Die würdige Rückkehr zur Normalität des 9. Mai und die Entzündung des Ewigen Feuers in den befreiten Gebieten der Volksrepublik Donezk und der Ukraine weisen uns den Weg, die die ganze Region nach langen Jahren der Unruhe und des Leids im Endefekt auch politisch gehen wird.

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.